Dezember 2022
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Precious Chiebonam Nnebedum: birthmarks. Gedichte life begins with an empty page. // das leben beginnt mit einer leeren seite. Bisher war die in Nigeria und Österreich aufgewachsene Precious Chiebonam Nnebedum vor allem für ihre ausdrucksstarke, gesellschaftspolitisch engagierte Spoken-Word-Kunst bekannt – als Poetry-Slammerin wurde sie unter anderem zwei Mal zur österreichischen U20-Vizemeisterin gekürt. Nun hat die auch als Musikerin tätige Performerin, die bereits 2020 für eine Kurzgeschichte mit dem Titel »The Gospel Road« mit dem exil-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, ihr erstes gedrucktes Buch veröffentlicht. Gedichte in zweierlei Sprachen werden einander darin – zunächst in Precious Nnebedums englischsprachiger Originalfassung und anschließend in deren individuell bzw. kollektiv, stets jedenfalls mit viel Feingefühl angefertigter Übersetzung ins Deutsche – gegenübergestellt. In der Spiegelung zwischen englisch- und deutschsprachigen Versen eröffnen sich dabei vielfältige Wortbedeutungen und kunstvolle Sprachbilder, die in »birthmarks« zusätzlich noch durch eine bildästhetische Dimension ergänzt werden (dazu weiter unten mehr). Die – mit Ausnahme bedeutsamer Abweichungen – durchwegs in Kleinschreibung verfassten Gedichte laden dazu ein, im Echo der verschiedensprachigen Verse den Verflechtungen des künstlerisch zum Einsatz gebrachten Sprachmaterials nachzugehen – oder auch, je nach Vorliebe bzw. Vorwissen, nur einer der beiden ausgelegten Sprachspuren zu folgen. Inhaltlich setzt sich die Gedichtsammlung mit einer Vielfalt an grundlegenden Themen auseinander und stellt wichtige Fragen, die in uns allen in unterschiedlichen Tönen widerhallen: Woran und an wen glaube ich? Wie kann ich in unserer Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht auf der Unterdrückung und Benachteiligung vieler zum Vorteil einiger weniger aufgebaut ist, (über-)leben? Worin finde ich meinen Mut und meine Widerstandskraft? Gehört mein Leben wirklich »mir« und wessen ist es, dieses zu erzählen? Das Geschichten-Erzählen erweist sich dabei als rekurrierendes Motiv, das sich in unterschiedlichen situativen, medialen und performativen Kontexten – sowohl in oraler als auch skripturaler Ausprägung – in die Gedichte einschreibt. Zu der aus biografischer Sicht ersten und für das lyrische Ich einer der wichtigsten Erzähler*innen wird dabei die Mutter, deren Geschichten eine fast magische Anziehungskraft zu haben scheinen: my mother. could have every man on his knees with just a single smile. she said the word and we were all at her feet. // meine mutter. konnte mit einem einzigen lächeln jeden mann vor sich auf die knie fallen lassen. und meine mutter liebte es zu lächeln. sie sprach das wort und wir alle waren zur stelle. Die Bedeutung des erzählenden Wortes und – in dessen Erweiterung – der Literatur wird aber nicht nur in Szenen wie diesen hervorgehoben, sondern hallt auch in dem dichten Referenznetz populärkultureller ebenso wie biblischer und aus anderen mythologischen (Erzähl-)Traditionen gespeister Verweise wider. saul williams (2001) said: // saul williams (2001) sagte: Über seine poetische Verfasstheit hinaus besticht das Buch zudem durch seine durchdachte, wertige Gestaltung: durch sein großzügiges Layout, das viel (Weiß-)Raum lässt für die Entfaltung der Verszeilen und der (eigenen) Vorstellungskraft; durch die in regelmäßigen Abständen eingebundenen hellbraunen Seiten, deren kurze, stets titellose Gedichte gleich rhythmisierender Interludien, in denen sich das sprechende Ich immer wieder im inneren Zweigespräch fragend an sich selbst wendet, die Textsammlung strukturieren; und natürlich durch die beeindruckenden, farbintensiven Illustrationen von Nancey B. Price, die als Collagen aus unterschiedlichen floralen und figuralen Bildelementen das im Text Angesprochene auf vielgeschichtete Weise aufgreifen, Angedachtes mal feingliedrig, mal lautstark weiterspinnen und Angedeutetes vielstimmig widerhallen lassen. In ihrer besonderen Ästhetik erinnern die Werke der afroamerikanischen Künstlerin durchaus an die für den von Evein Obulor herausgegebenen (und ebenfalls äußerst empfehlenswerten!) Essayband »Schwarz wird großgeschrieben« (2021) entworfenen Collagen von Sharonda Quainoo – und stellen »birthmarks« damit nicht zuletzt in eine zeitgenössische Publikationstradition Schwarzer literarischer Stimmen, die in einem Prozess zunehmender Verdichtung und Vervielfältigung immer mehr Raum in einem Literaturmarkt, der von alteingesessenen, benachteiligenden, sich um sein eigenes Zentrum drehenden Strukturen bestimmt wird, einnimmt und einfordert. Und das zurecht – und mit inspirierender (Wort-)Kunst und (Bild-)Kraft. Betont wird in diesem Kontext häufig das Moment des ermächtigenden sich selbst ins Leben, in die Literatur (bzw. den Literaturkanon) und damit in die Geschichte Ein-Schreibens. Dieses wollen wir zum Anlass nehmen, um noch einmal auf das eingangs wiedergegebene Zitat aus »birthmarks« zu blicken, das den*die Autor*in als Geburtshelfer*in poetisiert, die beiden Elemente »Leben« und »Text« untrennbar ineinander verwebt und sich dabei auch mit der Frage auseinandersetzt, wo und wie (literarisches) Erzählen beginnt: life begins with an empty page. // das leben beginnt mit einer leeren seite. »Wo beginnt Literatur?« – das haben wir uns in den vergangenen Wochen im Rahmen des ersten Moduls unseres aktuellen Fernkurs für Literatur immer wieder gefragt. Beginnt Literatur da, wo wir beginnen, unser Leben zu (be- bzw. er-)schreiben – sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinn? In unserem (alltäglichen) Sprechen über und Erzählen von unserem Leben? Bedeutet die Geburt eines (literarischen) Textes auch die Geburt eines neuen Lebens und vice versa? In dem als »tabula rasa« betitelten Gedicht von Precious Chiebonam Nnebedum scheint der Prozess der kreativen, schöpferischen Versprachlichung eines Lebens tatsächlich beständig zwischen unterschiedlichen Auslegungen der möglichen Antworten auf diese Fragen zu changieren. Wie ein solches Menschenleben denn nun er-fass-bar und erzähl-bar gemacht werden kann, erkundet nicht nur Precious Nnebedum in ihren Gedichten auf vielfältige Weise – auch uns wird diese Frage im Laufe des uns bevorstehenden zweiten Fernkurs-Moduls »Wie erzählt man ein Leben?« noch länger beschäftigen.
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November 2022
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Hanna Harms: Milch ohne Honig Schwirrende Flügel aus Glas. / Auf und ab. In Text und Bild erkundet »Milch ohne Honig« das Leben der Bienen im Anthropozän, erzählt von dem Alltag einer Honigbiene, den Funktionsweisen eines Bienenstocks und den Mechanismen von Pflanzenbestäubung gleichermaßen wie von den Gefahren, denen sich die gestreiften Insekten durch Globalisierung, industrialisierte Landwirtschaft und Klimawandel gegenübersehen. Die Rolle des Menschen und unser aller Eingebettet-Sein in ein zwar widerstandsfähiges, aber durchaus nicht unzerstörbares Ökosystem wird dabei ebenso reflektiert wie mögliche Wege in eine gemeinsame, nachhaltigere Zukunft. Geordnet durch Panelstrukturen, wie wir sie aus Comic und Graphic Novel kennen, entspinnt sich die zarte Symbiose zwischen Bild und Text vor dem Hintergrund der weißen Buchseiten in feingliedrigem Bleistiftstrich und warmen grüngelben Gouacheflächen, die mit zarten lachsrosa Akzenten durchsetzt sind. Sowohl Text als auch Bild bedienen sich einer Ästhetik des Reduzierten und Einfachen, in der gezielte kurze Textzeilen das Gezeigte vertiefen und ausschnitthafte, entleerte Bilddarstellungen das Erzählte einerseits konkretisieren und veranschaulichen, gleichzeitig aber auch den Raum für Imagination und Interpretation öffnen. »Milch ohne Honig« ist das Werk einer jungen deutschen Zeichnerin. Für das Abschlussprojekt ihres Bachelorstudiums an der Münster School of Design hat Hanna Harms nicht nur einen renommierten Verlag für seine Veröffentlichung gefunden, sondern auch prompt eine Auszeichnung erhalten. 2020 wurde es mit dem Ginco-Award – und zwar in der Kategorie »Best Non Fiction Comic« – gewürdigt. Nicht-Fiktion also: Keine fiktive Geschichte wird hier erzählt, sondern – im Graphic Novel-Format – Wissen vermittelt. Ein Gebrauchstext also, mit dem man sich über die Bedeutung und Bedrohung der Bienen im Anthropozän informieren kann? Nun, ganz so einfach ist es nicht. Nicht umsonst sprechen Rezensionen zu dem Buch immer wieder von der Verschränkung von Poetischem und Wissensvermittelndem. Da ist die Rede von klarer Poesie, die in einfachen Bildern und Worten eine faszinierende Tiefe entstehen lässt (Lena Hähnchen für den MDR). Von lyrischer Allegorie im Bildformat, die gleichermaßen als Sachliteratur gelesen werden kann (Alexandra Hofer für die STUBE). Denn »Milch ohne Honig« bewegt sich in jenem uneindeutigen und unvereindeutigbaren Übergangsbereich, in dem literarisches Erzählen beginnt. Wo und wie genau dies vonstattengeht, ist nicht immer so leicht und so eindeutig festlegbar, wurde und wird vielfach (und immer wieder auch mit erhitzten Gemütern) diskutiert. In unserem aktuellen Fernkurs für Literatur »nachLESEN« widmen wir daher gleich ein ganzes Modul dieser schwierigen Frage, die sich auch entlang von Hanna Harms’ »Milch ohne Honig« wunderbar erkunden lässt: Wo beginnt denn eigentlich das, was wir »Literatur« nennen? Gebrauchstexte legen fest, Literatur öffnet – so legt es Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Leseheft, das den Fernkurs eröffnet, dar. Mehrdeutigkeit und Mehrschichtigkeit seien in literarischen Texten nicht nur gewollt und gewünscht, sondern laden Leser*innen auch zur Mitarbeit im kreativen Prozess der Imagination ein. Ganz in diesem Sinne legen auch Bild und Text in »Milch ohne Honig« weniger Bedeutungen fest, als dass sie Bedeutungspotentiale anbieten und vielschichtige Deutungshorizonte eröffnen. Dies gelingt nicht zuletzt durch die bereits erwähnte besondere Ästhetik der Reduziertheit, aber auch durch den Einsatz abstrakter, stilisierter Bildgestaltung und metaphorischer, poetischer Sprachverwendung, die Raum lassen für die eigenen Assoziationen der Leser*innen. Literatur eröffnet Hallräume – so formuliert es auch Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Leseheft. Hallräume, in die sich die Leser*innen mit ihren eigenen Erfahrungen, Emotionen und Vorstellungen einschreiben können. Und so ist es auch nicht überraschend, wenn Lena Hähnchen in ihrer Rezension von »Milch ohne Honig« schlussfolgert: Was bleibt ist ein Gefühl. Ein Gefühl der leichten Schwere.
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September & Oktober 2022
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Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir. Julya Rabinowich ist Schriftstellerin, Dramatikerin, Malerin, Kolumnistin und Dolmetscherin. Von ihrer Geburtsstadt Leningrad (heute St. Petersburg) wurde sie 1977 nach Österreich „umgetopft“ – wie sie es selbst immer wieder formuliert –, wo die vielseitige Künstlerin seitdem nicht nur die Literaturszene maßgeblich geprägt hat. Ihr Studium der Malerei ergänzte Julya Rabinowich mit einem für Dolmetschen und Übersetzen; als Simultanübersetzerin aus dem Russischen war sie danach vor allem im Rahmen von Psychotherapien und Psychiatriesitzungen von Asylwerber*innen und Flüchtlingen tätig.
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Juli & August 2022
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Isabella Feimer / Manfred Poor: American apocalypse. Gedichte & Fotografien. die Welt eine Sanduhr
Von 2016 bis 2018 reisten die Autorin Isabella Feimer und der Fotograf Manfred Poor durch Nordamerika. Drei Jahre später haben sie in einem gemeinsamen Bild-Text-Band unter dem Titel American apocalypse jene inneren und äußeren Begebenheiten versammelt, die sich unterwegs zwischen den Zeilen der Zeit verloren haben, die am Wegrand gefunden wurden – und mithilfe derer die beiden österreichischen Künstler*innen ihre Reiseroute, ihre Bewegungslinien und Zwischenstationen, poetisch-kreativ nachzeichnen. Gedichte & Fotografien heißt es im Untertitel – zwei Textsorten bzw. Medienformen, die in dem vorliegenden Buch auf künstlerisch-eindrucksvolle Weise miteinander in ein nuanciertes Wechselspiel gebracht werden. Mal doppel-, mal einseitige Fotografien wechseln sich dabei nicht nur mit lyrischen Verszeilen ab, sondern legen sich an manchen Stellen auch übereinander. Text und Bild treten so in einen vielschichtigen Austausch – gemeinsam erzählen sie von jenen Orten, die Isabella Feimer und Manfred Poor besucht haben und aus dessen Eindrücken, Momentaufnahmen, Erinnerungen sie sich speisen. Gedichte und Fotografien fügen sich dabei zu einem vielstimmigen Kaleidoskop, das mit dem Begriff „Reisetagebuch“ nur unzulänglich beschrieben werden kann. Auf formaler Ebene tauchen Strukturen eines Tagebuchs aber durchaus immer wieder auf: In Schreibmaschinen-getippten Buchstaben wird dem Ende jedes Gedichts wird zwar nicht das Datum, dafür aber die Stadt und der Bundesstaat hinzugestellt. Wie in einem assoziierenden, dialogischen Nachhinein hinzugefügt sind den Texten darüber hinaus immer wieder handschriftliche (Vers-)Zeilen beigestellt, die die Gedichte weiterspinnen, neue Deutungsdimensionen eröffnen oder einen Kommentar auf die abgedruckten Fotografien formulieren. Nicht nur diese Textpassagen sind oftmals in englischer Sprache verfasst, auch in die Gedichte werden ab und an nicht-deutsche (zumeist englische, teilweise aber auch spanische) Versatzstücke eingeflochten. ich lande die Untertasse in einem Schaufenster der Hauptstraße Menschen treffen wir in diesen kaum einmal an. Weite Landschaften, hohe Glasbauten und zivilisatorische Überbleibsel – Hochburgen ebenso wie Ruinen und Gegenorte des Kapitalismus – sind es, die die Bildkompositionen bestimmen. Deindustrialisierung und (post-)apokalyptische Stimmung steigern sich ins Grotesk-Abstruse, wenn sich zwei Alienpuppen zum Kartenspielen an einem staubbedeckten Tisch treffen. Wenn Reste von in sich zusammengefallenen Häusern fragmentarisch fokussiert werden. Oder verblichene, urbane Street Art in ihrer ästhetisierten Gesellschaftskritik aufgegriffen und neu inszeniert wird. Die oft melancholischen Stimmungen, die in den Fotografien erzeugt werden, greifen auch die Texte immer wieder auf. Gemeinsam verstehen es die zwischen Stereotypen und deren Brechungen changierenden Narrative, die Paradoxien Amerikas kritisch, künstlerisch und zugleich auch humorvoll zu verhandeln. Das Verhältnis des (sprechenden, schreibenden oder sehenden) Ichs zu jenem Raum, in dem es sich befindet und bewegt, wird dabei auf differenzierte Weise ausgehandelt: mal ironisch gebrochen, mal sehnsüchtig imaginierend, dann politisch direkt. Wie lässt sich ein Amerika erfahren, wenn nicht in der Bewegung? – fragt der Verleger Erwin Uhrmann in seinem Nachwort, in dem er die Gedichte und Bilder Isabella Feimers und Manfred Poors in Dialog mit der Beat-Generation und den Werken des italienischen Filmregisseurs und Dichters Pier Paolo Pasolini setzt. Aber bereits der Band selbst tritt mit verschiedenen Intertexten über das Reisen bzw. von Reisenden in Austausch, wenn die verschiedenen Kapitel von Zitaten von Schriftsteller*innen und Künstler*innen wie Jack Kerouac, Andy Warhol, Frida Kahlo oder Margaret Atwood eingeleitet werden und so vielstimmige Resonanzen zwischen den nachfolgenden visuellen und lyrischen Eindrücken erklingen lassen.
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Han Kang: Die Vegetarierin. Ich hatte einen Traum. Yong-Hye ist ihrem Mann zufolge eine Frau, die vom Aussehen bis zum Charakter an Durchschnittlichkeit nicht zu übertreffen ist; und gerade deshalb genügt sie ihm in ihrer Rolle als Ehefrau. Er selbst möchte möglichst unaufgeregt seinem Bürojob nachgehen, zu Hause ein beschauliches und normkonformes Leben führen. Eines nachts aber findet er seine Frau wie in Trance vor dem Kühlschrank hockend, konzentriert dabei, alles gelagerte Fleisch daraus zu entfernen. Ein Traum habe sie dazu gebracht, wird sie von da an wiederholt sagen, ein beunruhigender Traum, der sie nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Sie verweigert ab dieser Nacht den Konsum und die Zubereitung jeglicher tierischer Produkte. Eine vermeintlich unbedeutende, weil ja auch persönliche Entscheidung, die aber zur Bruchstelle wird, entlang derer hierarchisch geprägte Gewaltverhält- Schonungslos und doch mit einer beeindruckenden sprachlichen Schönheit erzählt die südkoreanische Autorin Han Kang die Geschichte ihrer Protagonistin aus drei Fremdperspektiven (Abschnitte, die in Südkorea zunächst als einzelne Kurztexte erschienen sind). Im ersten Teil, Die Vegetarierin, werden aus der Sicht ihres Ehemannes die Ereignisse von Yong-Hyes Entscheidung bis zu einem dramatischen familiären Zwischenfall aufgeschlüsselt, dem zum ersten Mal ein stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie folgt. Offenbar wird in diesem Abschnitt die zutiefst gewaltvolle, im Kern patriarchale Natur der Beziehungen, in denen sich die Figuren exemplarisch befinden; es ist gerade die permanente Bedrohung, die vom Zwischenmenschlichen ausgeht und die sich auch in der Unbarmherzigkeit anderen Kreaturen gegenüber ausdrückt, die Yong-Hye keine Ruhe lässt. Typografisch abgesetzte, kursivierte Textpassagen in diesem ersten Teil sind die einzigen sprachlichen Artikulationen der Protagonistin selbst, deren Kommunikations- Was sich dort festgesetzt hat, das sind Schreie und Gebrüll. Und die kommen vom Fleisch. Ich habe zu viel davon gegessen. All die Seelen sind dort eingeklemmt, da bin ich sicher. Blut und Fleisch werden verdaut, die Nährstoffe überall im Körper verteilt Aber die Seelen klammern sich hartnäckig in meinem Magen fest. Ich möchte einmal, ein einziges Mal einen großen Schrei ausstoßen können. Ich möchte in die Dunkelheit hinauslaufen, die sich jenseits der Fensterscheibe befindet. Würde das den Knoten auflösen können? Wäre das möglich? Kunstfertig nutzt die Autorin die Möglichkeiten des mehrperspekti- Han Kang versteht es trotz ihres behutsamen Umgangs mit den Figuren, zwischenmenschliche Beziehungen ungeschönt und brutal vor den Leser*innen zu sezieren. Und während die Protagonistin für die gewaltvollen Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sie sich befindet, zum unberechenbaren Störfaktor wird, schwingt im Aufbegehren – Wartet sie auf eine Antwort? Lehnt sie sich gegen etwas auf? – doch auch eine vorsichtige Hoffnung mit.
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Mai 2022
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Drôle – Einfach komisch. TV-Serie von Fanny Herrero In ihrer seit März 2022 auf Netflix verfügbaren Serie erzählt die französische Regisseurin Fanny Herrero, die bisher vor allem für ihre Comedy-Serie Call my Agent! (seit 2015) bekannt war, von vier jungen Stand-Up-Comedians, die versuchen in der Pariser Comedy-Szene Fuß zu fassen. Da ist zum einen der talentierte Wortakrobat Nezir (Younès Boucif), der algerische Wurzeln hat und gemeinsam mit seinem erkrankten Vater in einer kleinen Wohnung in den Banlieues lebt, wo die beiden gerade so über die Runden kommen. Zum anderen ist da Bling (Jean Siuen), der Manager des titelgebenden Comedy-Clubs Le Drôle und Sohn vietnamesischer Eltern, der den Höhepunkt seiner Karriere bereits hinter sich hat und nun mit dem Bergab nach dem medienwirksamen Durchbruch zu kämpfen hat. Ein solcher ist gerade Aïssatou (Mariama Gueye) gelungen, die als junge Schwarze Comedian, Ehefrau und Mutter die Grenzen dessen auslotet, was auf der Bühne als sozial akzeptabel gilt. Zuletzt ist da noch Appoline (Elsa Guedj), die aufgrund des Wohlstandes ihrer Familie zwar eine Vielzahl an Privilegien genießt, ihre Zeit aber lieber heimlich im Drôle als an der Privatuniversität verbringt, um dort die Kunst des Stand-Up zu erlernen und erste eigene Schritte in der Szene zu tun. Von dem Berufswunsch ihrer Tochter, der so gar nicht in das Bild der perfekten, gehobenen Familie passt, hält die alleinerziehende, an Depressionen leidende Mutter jedoch wenig. In ihrer Auseinandersetzung mit Stand-Up-Comedy als Unterhaltungs- und Kunstform fragt die aus sechs Episoden (zu je ca. 45 Minuten) bestehende TV-Serie nicht nur nach den Funktionsweisen, Produktionsbedingungen und Machtverhältnissen der Comedy-Industrie, sondern eröffnet auch differenzierte Blicke hinter die Kulissen in das alltägliche Leben der fiktiven Humor- Die unterschiedlichen Erzählstränge verschränkt die Serie auf gelungene, eindringliche Weise. Sofort fühlt man mit den in unterschiedliche Beziehungsformen zueinander tretenden Charakteren, denen wir entlang deutscher Untertitel im französischen Originalton folgen. Dass dies trotz der fremdsprachigen Präsentation möglich ist, ist einerseits dem überzeugenden Cast zu verdanken, der sich – erfrischender Weise – weitgehend aus noch recht unbekannten, aber deshalb nicht weniger talentierten Schau- Andererseits gehen einem*einer als Zuseher*in auch die feinfühlig erzählten Lebens- und Berufswege nahe. Selbst an ihren schlechtesten Tagen raffen sich die Künstler*innen auf, um auf die Bühne zu treten, und tun dort ihr Bestes, um dem Publikum ein Lachen zu entlocken. Die Standhaftigkeit der Figuren, die sich in ihrem Willen und ihren Überzeugungen trotz so einiger schwieriger Rückschläge nicht erschüttern lassen, wird nicht zuletzt in dem englischen Titel der TV-Serie deutlich: Anstatt den französischen Originaltitel zu übernehmen (der übrigens so viel wie „lustig“ oder „komisch“ bedeutet), entspinnt dieser ein doppeldeutiges Sprachspiel. Mit „Standing Up“ verweist er nicht nur auf die in der Serie behandelte Kunstszene, sondern eröffnet auch Assoziationen zu Wortbedeutungen wie aufstehen, sich (wieder) aufrichten, sich widersetzen, nicht aufgeben. Ganz in diesem Sinne verliert die Serie bei all den darin angesprochenen gesellschaftlichen Problemen auch nie ihren Humor. Herzlich gelacht wird dabei nicht nur auf, sondern auch vor der Leinwand bzw. dem Bildschirm. Claudia Sackl
Fußnote [1]: In seiner Rezension zu Drôle im Guardian weist der Journalist Brian Logan auf die ausgeprägte kulturelle Diversität der französischen Stand-Up-Szene (nicht zuletzt im Kontrast zu ihren englisch- oder auch deutschsprachigen Gegenübern) hin. Anhand eines Witzes der französisch-ivorischen Künstlerin und Humoristin Shirley Souagnon veranschaulicht er zudem die Verschränkung von Klasse, Hernkunft/Race und und einem in weiten Kreisen immer noch etablierten Verständnis von „Hochkultur“: Do you know the difference between theatre and standup? Frei übersetzt: Der gesamte Artikel von Brian Logan ist >>> hier (auf Englisch) nachzulesen. |
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April 2022
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Teresa Präauer: Mädchen. Es ist eine verzwickte Lage, in der sich die Erzählerin (eine literarische Selbstinszenierung der Autorin) zu Beginn von Teresa Präauers neuestem Text befindet: Nach nur einem kurzen Nickerchen erwacht sie gefesselt, umringt und beklettert von geschäftigen Playmobil-Piraten, Star Wars- und Ninjago-Figuren, auf dem Zimmerboden eines Neunjährigen, auf den sie gerade aufpasst. Wie Gulliver auf seinen Reisen festgesetzt hat sie Zeit zum Beobachten und Reflektieren, während der Junge um sie herum spielt, rastet, isst, tobt und döst. Im Zimmer finden sich Schätze, die sein Kind- und Junge-Sein wohl irgendwie mit ausmachen: ein Gummiball mit bunten Alufäden, ein Harry Potter-Schloss, die vielen Figürchen, ein Buch mit dem Titel Hundert Dinge, die ein Junge wissen muss. Und die Erzählerin? Die macht inspiriert von dem Gesehenen einen Gedankensprung in die eigene erinnerte Kindheit, in ihr Mädchen-gewesen-Sein, und startet eine behutsame, assoziative Annäherung: Das Mädchen ist dabei Thema, Wort, Figur, Projektionsfläche, Trope und Symbol. Wer über das Mädchen nachdenkt, denkt über Anfänge nach. Ich will mich erinnern können. In ihrem Buch verflicht die österreichische Autorin sehr persönliche Erinnerungen an ihre Familie, die Schulzeit und das Flügge-Werden in der großen Stadt mit der Gegenwart im Kinderzimmer. Geschickt spielt sie mit der Behaglichkeit jenes nostalgischen Schleiers, der sich nur allzu gerne über Kindheitserinnerungen legt. Dabei werden sowohl die eigene Rückschau als auch dingliche Erinnerungsstücke auf ihren realitätsbildenden Gehalt hin befragt: Unser Vater setzte die Szenen gekonnt ins Bild. Zwei Mädchen mit Würmern in den Schürzentaschen, kommentiert sie etwa ein (letztlich auch zurechtimaginiertes) Foto von ihr und ihrer Schwester, nur um wenig später nachzusetzen: Würmer hatten wir übrigens nie in den Taschen, wir trugen auch kaum je Schürzen. In Anlehnung an andere Mädchenbilder aus Literatur und bildender Kunst wird das Mädchen-Sein als ein Zustand erkundet, der nach dem Entwachsen nicht mehr zugänglich und doch identitätsbildend ist; als eine Empfindung, die zwar der eigenen, aber doch einer ganz anderen Lebenswelt zugehört. In Anlehnung an Annie Ernauxs Erinnerungen eines Mädchens (Suhrkamp 2016) heißt es da: Um das Mädchen in diesen Bildern zu sein, müsste ich Ballett tanzen im Anfängerkurs, buntes Seidenpapier zu kleinen Kugeln rollen und im Herbst auf Kastanien kleben, mich im Fasching als Rotkäppchen verkleiden, unterm Arm einen Korb, befüllt mit Gugelhupf und einer Flasche Rotwein, ein Wort wie Juchhu in Großbuchstaben schreiben üben. Ich müsste mich vor Räubern und Hexen fürchten, Kirschen pflücken und akrobatische Turnübungen an Seilen und Ringen vollführen. Dieses Erinnern, Nachdenken und Verflechten bildet den Kern des Texts, der durch das lustvoll paradoxe Zwiegespräch mit dem Jungen in der Rahmenhandlung aber auch zum Essay über die Fiktion an sich wird. So kann die doch auch glaubhafte Szenerie ganz unverhofft kippen, wenn sich der Neunjährige etwa als Kenner literaturwissenschaftlicher Theorien herausstellt, die Erzählerin sich in Konversation mit ihrem jüngeren Ich begibt oder eben Spielfiguren lebendig werden. Das Erinnern und das Schreiben werden als verwandte Prozesse herausgearbeitet; eine Verwandtschaft, die aber nicht unmissverständlich ausformuliert, sondern am Beispiel des Texts vorgeführt wird. Das Entlanghangeln von Gedankenbild zu Gedankenbild, das Wechselspiel zwischen schrittweisem Weitererzählen und Illusionsbruch, lässt vieles in der Schwebe und gibt damit die Freiheit, noch einmal ganz anders auf das (Schreiben über) Mädchen zu schauen. So führt die Erzählerin zwar manchmal in die Irre, sie begleitet die Leser*innen aber auch durch das Textgewebe. Und wie diese eloquente Reisebegleiterin lässt sich auch das Mädchen nicht festlegen; seine Zuschreibungen changieren zwischen romantischer Verklärung und kategorischer Herabsetzung, zwischen Mädchen im Kleidchen mit Blümchen im Körbchen und Rebellion gegen vorgefertigte Rollenbilder. Es ist eine verspielte, raffinierte, humorvolle Annäherung, die einen Bogen schlägt von der individuellen Kindheit zur medialen Imagination: Das Mädchen ist eine Aktionistin, das Mädchen ist ein Anblick, es ist etwas, und wir werden ihm damit nicht gerecht, zwischen Göre und Prinzessin, zwischen Diffamierung und Beschönigung. Das Mädchen ist eine Kämpferin und so etwas wie eine Symbolfigur, die bewundert wird oder kritisiert oder verleumdet. Das Mädchen ist manchmal bereits älter, als es aussieht. Es trägt Zöpfe und wirkt damit harmlos, aber es ist voller Wut auf die Ungerechtigkeit in der Welt und führt den Klimastreik an. Und auch dieses Mädchen gibt es: Es trägt nichts als ein rotes Kleid und stellt sich schutzlos gegen die bewaffnete Polizei. Und jenes: Es hält eine Rede vor der UN-Vollversammlung, nachdem man ihm ins Gesicht geschossen hat. Und dieses fällt mir auch ein: Es segelt allein um die Welt. Sarah Auer
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März 2022
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Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg. Roman. In seinem neuen, Mitte Februar erschienenen Roman thematisiert Vladimir Vertlib – der vor wenigen Wochen bei unserer Fernkurs-Tagung »Randschaften« in Salzburg zu Gast war – jenen Konflikt, der seit den vergangenen Wochen im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit steht. Ohne vorausahnen zu können, welch entsetzliche Aktualität sein Text schon so bald nach dessen Erscheinen erhalten würde, setzt sich der Autor darin mit den politischen, sozialen und persönlichen Wirren im postsowjetischen Raum auseinander: In jener namenlosen osteuropäischen Hafenstadt, in der der Roman angesiedelt ist und die sich gerade von den Folgen der Corona-Krise erholt, herrscht Bürgerkrieg. Rebell*innen haben sämtliche Zufahrtsstraßen blockiert, der Flughafen ist zerstört und Paul Sarianidis arbeitslos. Der frühere Flugzeugingenieur ist ein fürsorglicher, liebevoller Familienvater und lebt mit seiner Mutter Eva, seiner im Krankenhaus Dauerschichten schiebenden Frau Flora und seiner gerade ins Teenageralter gekommenen Tochter Lena in einer gemeinsamen Wohnung. „Krisen sind Glanzzeiten für das Netz.“ Des Nachts jedoch treibt sich Paul in Internetforen herum, wo sich die anonymen User*innen politische Streitgespräche liefern, die nicht selten in wüsten Beschimpfungen und Gewaltandrohungen enden. Diesen emotional aufgeladenen Disputen kann sich Paul nicht entziehen. Eines Nachts lässt er sich dazu hinreißen, üble Hass-Postings an einen ihm unbekannten Mann abzuschicken. Dass es sich dabei um den Separatist*innenanführer Boris Lupowitsch handelt, erfährt er erst später, als dessen Handlanger – kurz nach der Eroberung der Stadt – bewaffnet vor Pauls Tür stehen und ihn vor seinen erzürnten Widersacher führen. Dieser hat sich einen ausgeklügelten Racheplan überlegt: Vor laufender Kamera wird Paul gedemütigt und das Video davon auf YouTube veröffentlicht, wo es innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Klicks verzeichnet und Paul über Nacht zum Gespött der Stadt macht. Als Konsequenz erfährt nicht nur seine Tochter Ausgrenzung in der Schule, sondern auch Paul bekommt den Hass der Leute leibhaftig zu spüren. Aufgestachelt von dem faschistischen Propaganda des diktatorischen Systems, das in der Zwischenzeit von den neuen Machthaber*innen eingerichtet wurde, befördert ihn eines Tages ein wilder Mob in einem beängstigenden „Entsorgungs“-Ritual in eine Bio-Mülltonne – in die zuvor auch schon eine kritische Theaterdirektorin gestoßen wurde. Dabei führt Vladimir Vertlib nicht nur vor, wie erschreckend rasch sich die allgemeine Meinung in einer Krisensituation – entsprechend dem jeweiligen etablierten politischen System – drehen, wie leicht die Stimmung in einer Gesellschaft kippen kann. Er unterfüttert seine Erzählung auch mit einer ordentlichen Portion Ironie und entwirft immer wieder skurrile Szenen, die ihren bitteren Ernst gerade durch ihre fast Slapstick-hafte Komik – über die man an kaum einer Stelle unbeschwert lachen kann – untermauern. „Papa, da draußen ist ein Zebra!“ Die Absurdität der festgefahrenen Situation in der zerrütteten Stadt, die noch nicht [weiß], ob sie erobert oder befreit worden ist, wird nicht zuletzt in der titelgebenden Figur des immer wieder auftauchenden Zebras verdichtet, das aus dem zerstörten Zoo entlaufen ist und zum (fast grotesken) Inbegriff der (politischen sowie sozialen) Ausnahmesituation wird: Was Paul hier mit Blick auf den Lebensalltag in seiner Stadt diagnostiziert, wird an anderen Stellen des Romans auch in Bezug auf die (global zu beobachtenden) Tendenzen in sozialen Netzwerken formuliert. Wenn man Gesprächspartner nur noch als Profile oder Fotografien und nicht als reale Menschen wahrnimmt, kann das sehr schnell zu Enthemmung führen. Zu Dynamiken, die Konflikte und Polarisierungen verschärfen. – so Vladimir Vertlib in einem Interview mit der taz. „Was heißt denn wirklich?“ Anstatt jedoch eine einfache Parabel auf die Gefahren des anonymisierten Internets zu verfassen, hat Vladimir Vertlib mit Zebra im Krieg einen vielschichtigen Roman vorgelegt, der beklemmende Tendenzen unserer Gesellschaft mit einer Stadt im Ausnahmezustand verschränkt – und dabei unheimlich nah an unserer Wirklichkeit scheint. Und das nicht nur, weil die zu Beginn erwähnte Sache mit dem Video auf einer „wahren Begebenheit“ (wie schon der Untertitel des Buches nahelegt) basiert: Die Szene mit dem Video beruht auf Tatsachen. Sie hat sich vor einigen Jahren in der Ukraine zugetragen. In meinem Roman habe ich die Stadt allerdings ans Meer verlegt. Ich hatte ein bisschen Odessa im Kopf, es könnte aber auch Mariupol, Sewastopol oder Sotschi sein. Ich habe es bewusst offen gelassen. Ich wollte kein Schlüsselbuch über den Ukraine-Konflikt oder das System Putin schreiben. Vielmehr handelt es sich um einen exemplarischen Fall für die Verhältnisse an der Peripherie Europas. (Vladimir Vertlib) Dennoch könnten viele der geschilderten Diskurse direkt aus der aktuellen Realität gegriffen sein. Beispielsweise wenn die junge Lena in den familiären Diskussionen immer wieder – die offiziellen Erzählungen wiederhallend – trotzig dazwischenruft: „Das ist kein Krieg […]. Das ist eine erweiterte Polizeiaktion …“ „Papa, es ist Frieden!“ Dieser hoffnungsvolle Ausruf der Tochter an den Vater rahmt den Roman – und die politischen Machtwechsel in der Heimatstadt des Protagonisten. Paul, der komisch-tragische (Anti-)Held der Geschichte, ist in Zebra im Krieg jedoch nicht nur die Figur, durch deren Augen wir als Leser*innen das Geschehen beobachten. Auch auf der Ebene der Romanhandlung wird er zu jenem Erzähler, dessen Geschichten vor allem der Tochter dabei helfen, die Nächte zu durchwachen – und so Hoffnung auf ein gemeinsames Danach machen. Claudia Sackl |
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Februar 2022
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Julia Lacherstorfer: Spinnerin. a female narrative Julia Lacherstorfer ist derzeit gewiss eine der umtriebigsten, innovativsten und dabei auch spannendsten Künstler*innen an der diffusen Grenze zwischen Klassik, Weltmusik und Volksmusik, die in Österreich seit mehreren Jahren immer kreativer und lustvoller bespielt wird. Ob mit ihrer fünfköpfigen Band ALMA, dem Duo Ramsch & Rosen, als Komponistin oder Intendantin der wellenklænge (einem Festival für zeitgenössische Musik) in Lunz am See – ihre Arbeiten bereisen das Eigene, nehmen es musikalisch auseinander und knüpfen seine Fäden an andere musikalische Traditionen an. 2020 ist ihr erstes Soloprojekt Spinnerin erschienen, für dessen Grundidee sie als kompositorische und ethnomusikologische Pionierin einiges zu leisten hatte. Volkslieder aus weiblicher Perspektive sollten auf dem Album versammelt werden; aber wo eine Perspektive hernehmen, die in den meister der bisher tradierten Liedern kaum oder nur durch einen anderen Blick verzerrt vorhanden zu sein scheint? Wer sich im alpenländischen Liedgut auf die Suche nach Frauenfiguren macht, findet zunächst einmal Liebeslieder auf umworbene Dirndln auf blühenden Almen, Klagen über Liebeskummer, Ammen- oder Wiegenlieder. Ein recht einseitiges Bild, das sich – auch in romantisierender Selbstbeschauung – über die Jahrhunderte verfestigt hat. Julia Lacherstorfer setzte für ihre Recherche abseits dieser Klischees an, durchforstete Archive, schrieb um und komponierte selbst. Als narrativen Grundstock führte sie Interviews mit Frauen und stützte sich auf Quellen der „Oral History“, so etwa das von Rosa Scheuringer herausgegebene Buch Bäuerinnen erzählen: vom Leben, Arbeiten, Kinderkriegen, Älterwerden (2007). Stellen wir uns Geschichte als Gewebe vor, auf dem sich als Musterung zuerst die großen, identitätsstiftenden Erzählungen exponieren, muss doch auch gefragt werden, woher die Fäden kommen, aus denen es sich zusammensetzt. Unterschiedliche Formen textilen Handwerks wurden und werden seit Jahrhunderten stark mit Weiblichkeit assoziiert und vielleicht gerade deshalb bagatellisiert – obwohl sie für Gesellschaften an sich ebenso wie in tatsächlichen Geschichten eine unentbehrliche Rolle spielen (wir denken etwa an das widerständige Weben der Penelope in der Odyssee). Direkt vom Handwerk geht darum auch die Musikerin aus: Im titelgebenden Track Spinnerin überlagern sich Aufnahmen ihrer Mutter, die die beim Spinnen zentralen Vorgänge erklärt, mit dem Volkslied Spinn, spinn Spinnerin. Zusätzlich werden darin Harmonien und alltägliche Geräuschkulissen verflochten, die die besungene, imaginierte mit der tatsächlichen, realen Arbeit verschränken. Auf diese Weise gesteht die Komponistin nur selten erzählten Geschichten ihren Raum zu, und nimmt eine wertfreie Annäherung an von Arbeit und Verlust geprägte Realitäten vor, anstatt zu beschönigen oder zu idyllisieren. So auch in Irgendwann, dem Eingangslied des Albums, das Julia Lacherstorfers Großmutter gewidmet ist: Eine einzelne Violine, nicht gestrichen, sondern behutsam und doch rhythmisch betont gezupft, findet zuerst ihren Weg durch die Stille. Zwar klingen immer wieder verhalten ein paar verspielte Achtelnoten nach, taktangebend sichern Quinten und Oktaven aber einen beständigen, offenen Grundton. Dann setzt in klarer Singstimme die sprachliche Erzählung ein; die Rückschau einer Bäuerin auf ein entbehrungsreiches Leben, dem aber genauso mit Dankbarkeit begegnet wird. Und mit der ruhigen Gewissheit, dass es bald auch gut sein darf: Irgendwånn bin i miad, Der Tod geistert in unterschiedlicher Gestalt immer wieder durch die versammelten Lieder – als erlösende Figur (wie hier in Irgendwann) als Hauptmann, der die Männer zum Wehrdienst einzieht (Bitte bitte, Herr Hauptmann) oder im abschließenden Totenlied. Auch eine der berührendsten Kompositionen des Albums, Und der See schweigt (eine Anlehnung an das Volkslied Is scho stü umman See), handelt von einem tödlichen Unglück und spürt der Geschichte einer Thumersbacher Bauernfamilie nach, die 1917 bei einer Fahrt über den Zeller See ums Leben kam. Der Tod ist auf dem Album also kein seltener Gast, sondern als neutrale Entität Teil des Alltags und selbstverständlich anwesend. Der Hauptakteur aber ist er nicht. Vielmehr geht es um die vielen bisher unerzählten Leben von Frauen, denen hier ruhig, poetisch, oft auch melancholisch aber niemals sentimental ihr Platz in der musikalischen Geschichtsschreibung zugestanden wird. Dabei nimmt Julia Lacherstorfer alle ihr zur Verfügung stehenden Fäden selbst in die Hand und spinnt die Erzählungen, die im überlieferten Repertoire meist nur Leerstellen sind. Dadurch ermöglicht sie ihren Hörer*innen einen ganz neuen und experimentellen Zugang zur alpenländischen Volksmusik. Zur Figuration der Spinnerin sagt sie im >>> Interview mit music austria: Die Spinnerin steht oft für ein Symbol der Entscheidungen des Schicksals. Etwa zwischen Leben und Tod. Sie spinnt den Lebensfaden und wenn der reißt, stirbt auch eine Person. Der Lebensfaden liegt quasi in ihrer Hand. Ich habe dieses Bild als ein sehr schönes empfunden. Zugleich ist Spinnerin auch ein Wort, das oft schon auch abwertend verwendet wird. Bezeichnet man eine Frau als Spinnerin, ist das oft nicht unbedingt positiv gemeint, sondern man kreidet ihr zum Beispiel an, dass sie unangepasst lebt. Was ich wirklich schön empfinde, ist, dass sich durch diese Interviews, durch meine Treffen mit diesen Frauen, durch ihre Erzählungen, durch meine Recherche, dadurch, dass ich das alles weiterverarbeitet habe und sich die Frauen einander kennengelernt haben, sich ein narratives Netz zwischen allen an diesem Projekt Beteiligten gesponnen hat. Ich finde es schön, eine Spinnerin von vielen zu sein. Sarah Auer |
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Jänner 2022
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Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. May I see your passport please? In mal präzise verdichteten, mal detailliert ausformulierten, mal augenfällig ambivalenten Dialogen verhandelt die deutsche Künstlerin Olivia Wenzel in ihrem Prosadebüt 1000 Serpentinen Angst schwierige Fragen der Zugehörigkeit und deren Verschränkungen mit den Bewegungen der Figuren im Raum und im Kopf. In jenen Dialogpassagen, die den Großteil des Romans speisen und die durchaus an den Charakter eines filmischen Drehbuchs erinnern, ist jedoch nicht immer klar, wer gerade mit wem spricht. Nur selten werden die Sprechenden explizit ausgewiesen oder gar namentlich bezeichnet – und auch der Realitätsgehalt des jeweiligen Gesprächs bleibt häufig offen: Als Leser*in kann man*frau sich nicht immer sicher sein, ob die wiedergegebene Unterhaltung (innerhalb der fiktionalen Realität) wirklich so stattgefunden hat, ob sie sich nur in der Gedankenwelt der Protagonistin abspielt oder ob sie eine Verschmelzung verschiedener, wiederholt erlebter Erfahrungen darstellt. Beständig müssen wir als Leser*innen daher den Text und uns selbst (be-)fragen: Handelt es sich bei der soeben gelesenen Passage um ein Einreiseverhör am Flughafen? Um ein Therapiegespräch zwischen Patientin und Psycholog*in? Um einen imaginierten Dialog der Protagonistin mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder? Oder doch um ein Zwie- bzw. Streitgespräch der Figur mit sich selbst bzw. ihrem Alter-Ego? Die Vielschichtigkeit, mit der Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst all diese Textformen ineinander zu verweben versteht, zeugt von ihrem großen Talent nicht nur als Dramaturgin, sondern auch als Erzählerin. Im Zentrum des Romans steht eine namenlose junge Schwarze Frau, die als Tochter einer deutschen Punkerin und eines angolanischen Gastarbeiters in der DDR aufwächst. Dort muss sie nicht nur mit dem latenten Rassismus ihrer Großmutter leben lernen, sondern kann sich auch im öffentlichen Raum nur eingeschränkt bewegen. Am Badesee versteckt sie sich als Jugendliche vor Neonazis, um nicht einer Gewalttat zum Opfer zu fallen; auf der Straße wird sie auf Englisch angesprochen, weil ihr Aussehen ihr Gegenüber zu der Annahme verleitet, sie könne natürlich nicht „von hier“ sein. Jene Zugehörigkeit, die ihr in Deutschland während ihrer Kindheit und Jugendzeit verwehrt wird, kann die Ich-Erzählerin erst als Erwachsene empfinden, als sie in die USA (wo paradoxerweise gerade Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird) reist. Erstmals wird sie dort als Deutsche wahrgenommen – und nicht mehr auf ihre Hautfarbe als Marker ihrer vermeintlichen Andersheit reduziert. In einer Welt hingegen, in der Deutschsein immer noch weitgehend mit Weißsein assoziiert wird und in der diese Verbindung oft unhinterfragt bleibt und dadurch zur Norm(alität) wird, kann sie sich nie ganz von dem Gefühl des Fremdseins und von ihren Angstzuständen – die sie nicht erst seit dem Selbstmord ihres Bruders verfolgen – befreien. Es gibt jetzt Angst, zu jeder Zeit, der Psychiater kann sie mir nicht nehmen. Wie auch, sie ist ungreifbar. Um jenes Trauma aufzuarbeiten, das familiärer, institutioneller und systemischer Rassismus in ihr hinterlassen haben, dafür wurden nicht einmal die Psychotherapeut*innen in Deutschland ausgebildet. Und so schlägt sich die Protagonistin zu weiten Strecken alleine durch ihren Alltag, denn auch ihre Eltern sind beide abwesend – der Kontakt zu ihrer Mutter ist so gut wie abgebrochen, der wohlhabende Vater schickt immerhin Geld aus Angola. Zum Glück gibt es da noch zwei Freund*innen, die ihr zur Seite stehen. WO BIST DU JETZT? Es ist die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer Positionierung sowie mit ihren Bewegungen im Raum bzw. in der Gesellschaft, ihre Auseinandersetzung mit ihren Begegnungen mit ihrer Umwelt und mit sich selbst, aus der sich das dialogische Gestaltungsprinzip Romans entfaltet: Mal speisen sich die Fragen, die das namenlose Ich an das namenlose Du stellt, aus Neugier, mal wirken sie provokant, manchmal sogar übergriffig. Geantwortet wird nicht immer gewissenhaft, sondern immer wieder ausweichend, mit Gegenfragen, oft drehen wir uns im Kreis. Unterbrochen werden die Dialogpassagen regelmäßig von fragmentarischen Erinnerungsstücken, in denen wir gemeinsam mit der Protagonistin an jenen Bahnsteig zurückkehren, an dem sich ihr Bruder das Leben genommen hat. Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnsteig, in irgendeiner Stadt. Ein vereinzelter, industrieller Klotz, trotzdem unscheinbar. Eine Maschine, ein rostfreier, glänzender, quadratischer Koloss. Warum steht er allein, wer hat ihn erfunden? Aber nicht nur (Grenz-)Orte des Reisens spielen in Olivia Wenzels Roman eine zentrale Rolle, auch die (durch kulturelle und nationale Zugehörigkeiten bestimmten) Bedingungen und Möglichkeiten des Reisens werden darin kritisch be- und hinterfragt. KANN ICH MICH AUSWEISEN? In ihrem Roman 1000 Serpentinen Angst entwirft Olivia Wenzel eine literarisch beeindruckende, bewegende und bewegte Textur, deren durchdachte Komposition eindringlich und bestimmt, humorvoll und poetisch mehr Fragen als Antworten aufwirft – und dennoch nie die Hoffnung aufgibt. Claudia Sackl |
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