Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps

Dezember 2022

 

   

Precious Chiebonam Nnebedum: birthmarks. Gedichte
Aus d. Englischen v. Lisa-Marie Höber, Eva Lapan, Precious Chiebonam Nnebedum, Fabienne Schantl und Daniel Schweiger.
Innsbruck/Wien: Haymon 2022.

life begins with an empty page.
i stare at my blank page and wonder if i should write another story.
tell another tale.

//

das leben beginnt mit einer leeren seite.
ich starre auf meine leere seite und frage mich, ob ich noch eine geschichte schreiben soll.
eine weitere erzählung teilen.

Bisher war die in Nigeria und Österreich aufgewachsene Precious Chiebonam Nnebedum vor allem für ihre ausdrucksstarke, gesellschaftspolitisch engagierte Spoken-Word-Kunst bekannt – als Poetry-Slammerin wurde sie unter anderem zwei Mal zur österreichischen U20-Vizemeisterin gekürt. Nun hat die auch als Musikerin tätige Performerin, die bereits 2020 für eine Kurzgeschichte mit dem Titel »The Gospel Road« mit dem exil-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, ihr erstes gedrucktes Buch veröffentlicht. Gedichte in zweierlei Sprachen werden einander darin – zunächst in Precious Nnebedums englischsprachiger Originalfassung und anschließend in deren individuell bzw. kollektiv, stets jedenfalls mit viel Feingefühl angefertigter Übersetzung ins Deutsche – gegenübergestellt. In der Spiegelung zwischen englisch- und deutschsprachigen Versen eröffnen sich dabei vielfältige Wortbedeutungen und kunstvolle Sprachbilder, die in »birthmarks« zusätzlich noch durch eine bildästhetische Dimension ergänzt werden (dazu weiter unten mehr).

Die – mit Ausnahme bedeutsamer Abweichungen – durchwegs in Kleinschreibung verfassten Gedichte laden dazu ein, im Echo der verschiedensprachigen Verse den Verflechtungen des künstlerisch zum Einsatz gebrachten Sprachmaterials nachzugehen – oder auch, je nach Vorliebe bzw. Vorwissen, nur einer der beiden ausgelegten Sprachspuren zu folgen. Inhaltlich setzt sich die Gedichtsammlung mit einer Vielfalt an grundlegenden Themen auseinander und stellt wichtige Fragen, die in uns allen in unterschiedlichen Tönen widerhallen: Woran und an wen glaube ich? Wie kann ich in unserer Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht auf der Unterdrückung und Benachteiligung vieler zum Vorteil einiger weniger aufgebaut ist, (über-)leben? Worin finde ich meinen Mut und meine Widerstandskraft? Gehört mein Leben wirklich »mir« und wessen ist es, dieses zu erzählen?

Das Geschichten-Erzählen erweist sich dabei als rekurrierendes Motiv, das sich in unterschiedlichen situativen, medialen und performativen Kontexten – sowohl in oraler als auch skripturaler Ausprägung – in die Gedichte einschreibt. Zu der aus biografischer Sicht ersten und für das lyrische Ich einer der wichtigsten Erzähler*innen wird dabei die Mutter, deren Geschichten eine fast magische Anziehungskraft zu haben scheinen:

my mother. could have every man on his knees with just a single smile.
and my mother loved to smile.
but on that day, she had a story to tell.
a tale by moonlight.

she said the word and we were all at her feet.
her 5 little rascals she would call us and draw a smile from the curve of our lips. 4 of them scattered on the warm rug in the chilled night. and one, the littlest one, naturally in her natural habitat. on her mother's laps, head on mooma's chest […] while she listened to a tale by moonlight.

//

meine mutter. konnte mit einem einzigen lächeln jeden mann vor sich auf die knie fallen lassen. und meine mutter liebte es zu lächeln.
aber an diesem tag hatte sie eine geschichte zu erzählen.
eine geschichte bei mondlicht.

sie sprach das wort und wir alle waren zur stelle.
ihre 5 kleinen racker, nannte sie uns und zog ein lächeln aus der biegung unserer lippen. 4 von ihnen verteilten sich auf dem warmen teppich in der kühlen nacht. und eine, die kleinste, natürlicherweise in ihrem natürlichen habitat. auf dem schoß ihrer mutter, den kopf auf mamas brust, […] während sie einer geschichte bei mondlicht zuhörte.

Die Bedeutung des erzählenden Wortes und – in dessen Erweiterung – der Literatur wird aber nicht nur in Szenen wie diesen hervorgehoben, sondern hallt auch in dem dichten Referenznetz populärkultureller ebenso wie biblischer und aus anderen mythologischen (Erzähl-)Traditionen gespeister Verweise wider.

saul williams (2001) said:
“let your children name themselves
and claim themselves”
so then
i must learn to read

//

saul williams (2001) sagte:
“lass deine kinder sich selbst einen namen geben
und sich selbst verantworten
also dann
muss ich lernen zu lesen

Über seine poetische Verfasstheit hinaus besticht das Buch zudem durch seine durchdachte, wertige Gestaltung: durch sein großzügiges Layout, das viel (Weiß-)Raum lässt für die Entfaltung der Verszeilen und der (eigenen) Vorstellungskraft; durch die in regelmäßigen Abständen eingebundenen hellbraunen Seiten, deren kurze, stets titellose Gedichte gleich rhythmisierender Interludien, in denen sich das sprechende Ich immer wieder im inneren Zweigespräch fragend an sich selbst wendet, die Textsammlung strukturieren; und natürlich durch die beeindruckenden, farbintensiven Illustrationen von Nancey B. Price, die als Collagen aus unterschiedlichen floralen und figuralen Bildelementen das im Text Angesprochene auf vielgeschichtete Weise aufgreifen, Angedachtes mal feingliedrig, mal lautstark weiterspinnen und Angedeutetes vielstimmig widerhallen lassen.

In ihrer besonderen Ästhetik erinnern die Werke der afroamerikanischen Künstlerin durchaus an die für den von Evein Obulor herausgegebenen (und ebenfalls äußerst empfehlenswerten!) Essayband »Schwarz wird großgeschrieben« (2021) entworfenen Collagen von Sharonda Quainoo – und stellen »birthmarks« damit nicht zuletzt in eine zeitgenössische Publikationstradition Schwarzer literarischer Stimmen, die in einem Prozess zunehmender Verdichtung und Vervielfältigung immer mehr Raum in einem Literaturmarkt, der von alteingesessenen, benachteiligenden, sich um sein eigenes Zentrum drehenden Strukturen bestimmt wird, einnimmt und einfordert. Und das zurecht – und mit inspirierender (Wort-)Kunst und (Bild-)Kraft.

Betont wird in diesem Kontext häufig das Moment des ermächtigenden sich selbst ins Leben, in die Literatur (bzw. den Literaturkanon) und damit in die Geschichte Ein-Schreibens. Dieses wollen wir zum Anlass nehmen, um noch einmal auf das eingangs wiedergegebene Zitat aus »birthmarks« zu blicken, das den*die Autor*in als Geburtshelfer*in poetisiert, die beiden Elemente »Leben« und »Text« untrennbar ineinander verwebt und sich dabei auch mit der Frage auseinandersetzt, wo und wie (literarisches) Erzählen beginnt:

life begins with an empty page.
i stare at my blank page and wonder if i should write another story.
tell another tale.

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das leben beginnt mit einer leeren seite.
ich starre auf meine leere seite und frage mich, ob ich noch eine geschichte schreiben soll.
eine weitere erzählung teilen.

»Wo beginnt Literatur?« – das haben wir uns in den vergangenen Wochen im Rahmen des ersten Moduls unseres aktuellen Fernkurs für Literatur immer wieder gefragt. Beginnt Literatur da, wo wir beginnen, unser Leben zu (be- bzw. er-)schreiben – sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinn? In unserem (alltäglichen) Sprechen über und Erzählen von unserem Leben? Bedeutet die Geburt eines (literarischen) Textes auch die Geburt eines neuen Lebens und vice versa?

In dem als »tabula rasa« betitelten Gedicht von Precious Chiebonam Nnebedum scheint der Prozess der kreativen, schöpferischen Versprachlichung eines Lebens tatsächlich beständig zwischen unterschiedlichen Auslegungen der möglichen Antworten auf diese Fragen zu changieren. Wie ein solches Menschenleben denn nun er-fass-bar und erzähl-bar gemacht werden kann, erkundet nicht nur Precious Nnebedum in ihren Gedichten auf vielfältige Weise – auch uns wird diese Frage im Laufe des uns bevorstehenden zweiten Fernkurs-Moduls »Wie erzählt man ein Leben?« noch länger beschäftigen.


Claudia Sackl

 



preciousnnebedum.com

 


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November 2022

 

 

Hanna Harms: Milch ohne Honig
Hamburg: Carsen 2022.

Schwirrende Flügel aus Glas. / Auf und ab.
[…]
Ein Höschen aus Staub. / In Farbe gekleidet tritt die Biene den Heimweg an.

In Text und Bild erkundet »Milch ohne Honig« das Leben der Bienen im Anthropozän, erzählt von dem Alltag einer Honigbiene, den Funktionsweisen eines Bienenstocks und den Mechanismen von Pflanzenbestäubung gleichermaßen wie von den Gefahren, denen sich die gestreiften Insekten durch Globalisierung, industrialisierte Landwirtschaft und Klimawandel gegenübersehen. Die Rolle des Menschen und unser aller Eingebettet-Sein in ein zwar widerstandsfähiges, aber durchaus nicht unzerstörbares Ökosystem wird dabei ebenso reflektiert wie mögliche Wege in eine gemeinsame, nachhaltigere Zukunft.

Geordnet durch Panelstrukturen, wie wir sie aus Comic und Graphic Novel kennen, entspinnt sich die zarte Symbiose zwischen Bild und Text vor dem Hintergrund der weißen Buchseiten in feingliedrigem Bleistiftstrich und warmen grüngelben Gouacheflächen, die mit zarten lachsrosa Akzenten durchsetzt sind. Sowohl Text als auch Bild bedienen sich einer Ästhetik des Reduzierten und Einfachen, in der gezielte kurze Textzeilen das Gezeigte vertiefen und ausschnitthafte, entleerte Bilddarstellungen das Erzählte einerseits konkretisieren und veranschaulichen, gleichzeitig aber auch den Raum für Imagination und Interpretation öffnen.

»Milch ohne Honig« ist das Werk einer jungen deutschen Zeichnerin. Für das Abschlussprojekt ihres Bachelorstudiums an der Münster School of Design hat Hanna Harms nicht nur einen renommierten Verlag für seine Veröffentlichung gefunden, sondern auch prompt eine Auszeichnung erhalten. 2020 wurde es mit dem Ginco-Award – und zwar in der Kategorie »Best Non Fiction Comic« – gewürdigt. Nicht-Fiktion also: Keine fiktive Geschichte wird hier erzählt, sondern – im Graphic Novel-Format – Wissen vermittelt. Ein Gebrauchstext also, mit dem man sich über die Bedeutung und Bedrohung der Bienen im Anthropozän informieren kann? Nun, ganz so einfach ist es nicht.

Nicht umsonst sprechen Rezensionen zu dem Buch immer wieder von der Verschränkung von Poetischem und Wissensvermittelndem. Da ist die Rede von klarer Poesie, die in einfachen Bildern und Worten eine faszinierende Tiefe entstehen lässt (Lena Hähnchen für den MDR). Von lyrischer Allegorie im Bildformat, die gleichermaßen als Sachliteratur gelesen werden kann (Alexandra Hofer für die STUBE). Denn »Milch ohne Honig« bewegt sich in jenem uneindeutigen und unvereindeutigbaren Übergangsbereich, in dem literarisches Erzählen beginnt. Wo und wie genau dies vonstattengeht, ist nicht immer so leicht und so eindeutig festlegbar, wurde und wird vielfach (und immer wieder auch mit erhitzten Gemütern) diskutiert. In unserem aktuellen Fernkurs für Literatur »nachLESEN« widmen wir daher gleich ein ganzes Modul dieser schwierigen Frage, die sich auch entlang von Hanna Harms’ »Milch ohne Honig« wunderbar erkunden lässt: Wo beginnt denn eigentlich das, was wir »Literatur« nennen?

Gebrauchstexte legen fest, Literatur öffnet – so legt es Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Leseheft, das den Fernkurs eröffnet, dar. Mehrdeutigkeit und Mehrschichtigkeit seien in literarischen Texten nicht nur gewollt und gewünscht, sondern laden Leser*innen auch zur Mitarbeit im kreativen Prozess der Imagination ein. Ganz in diesem Sinne legen auch Bild und Text in »Milch ohne Honig« weniger Bedeutungen fest, als dass sie Bedeutungspotentiale anbieten und vielschichtige Deutungshorizonte eröffnen. Dies gelingt nicht zuletzt durch die bereits erwähnte besondere Ästhetik der Reduziertheit, aber auch durch den Einsatz abstrakter, stilisierter Bildgestaltung und metaphorischer, poetischer Sprachverwendung, die Raum lassen für die eigenen Assoziationen der Leser*innen.

Literatur eröffnet Hallräume – so formuliert es auch Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Leseheft. Hallräume, in die sich die Leser*innen mit ihren eigenen Erfahrungen, Emotionen und Vorstellungen einschreiben können. Und so ist es auch nicht überraschend, wenn Lena Hähnchen in ihrer Rezension von »Milch ohne Honig« schlussfolgert:

Was bleibt ist ein Gefühl. Ein Gefühl der leichten Schwere.


Claudia Sackl

 




 

 


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September & Oktober 2022

 

 

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir.
München: Hanser 2022.

Julya Rabinowich ist Schriftstellerin, Dramatikerin, Malerin, Kolumnistin und Dolmetscherin. Von ihrer Geburtsstadt Leningrad (heute St. Petersburg) wurde sie 1977 nach Österreich „umgetopft“ – wie sie es selbst immer wieder formuliert –, wo die vielseitige Künstlerin seitdem nicht nur die Literaturszene maßgeblich geprägt hat. Ihr Studium der Malerei ergänzte Julya Rabinowich mit einem für Dolmetschen und Übersetzen; als Simultanübersetzerin aus dem Russischen war sie danach vor allem im Rahmen von Psychotherapien und Psychiatriesitzungen von Asylwerber*innen und Flüchtlingen tätig.

Seit 2007 veröffentlicht Julya Rabinowich Theatertexte und Literatur, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde, und schreibt Kolumnen für die österreichische Tageszeitung Der Standard sowie regelmäßig für den Kurier und die Zeit. Ihr Roman Krötenliebe war Teil der Fernkurs-Lektüre im diesen Monat zu Ende gegangenen >>> Fernkurs für Literatur »hinausLESEN«, in dem wir Grenzgebiete der Literatur erkundet und die ausgewählten Romane bzw. Genres aus einem neuen, zunächst womöglich ungewöhnlich erscheinenden Blickwinkel betrachtet haben.



Als Crossover-Autorin, die Bücher für Leser*innen verschiedenen Alters bzw. unabhängig von deren Alter schreibt, erwies sich Julya Rabinowich zudem als ideale Gästin für unser Fernkurs-Fest, das am 10. September 2022 nicht nur dem Fernkurs der Literarischen Kurse, sondern auch dem >>> Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE einen krönenden Abschluss verlieh. Ganz in diesem Sinne sprach und las Julya Rabinowich nicht nur aus bzw. über
Krötenliebe
, sondern auch über ihren jüngst erschienenen Jugendroman Dazwischen: Wir (2022), der einen weiteren Beleg dafür liefert, dass sich (Kinder- und) Jugendliteratur nicht immer nur durch ihre Adressierung auszeichnen muss.

Erzählt aus der Perspektive der nunmehr 16-jährigen Madina, deren Sichtweise wir bereits in dem 2018 erschienenen Vorgängerband Dazwischen: Ich folgten, stellt Dazwischen: Wir einen Text dar, der keinesfalls nur für jugendliche Leser*innen interessant und relevant ist. Auch wenn das Buch als eigenständiges Werk gelesen werden kann, wäre es durchaus schade, sich die Lektüre von Dazwischen: Ich entgehen zu lassen, in dem wir Madina erstmals kennenlernen: Diese ist mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflüchtet und nun in der deutschsprachigen Provinz angekommen; woher genau sie stammt, wird im Roman (und auch von der Autorin im Gespräch) nicht spezifiziert. Denn die kulturspezifische und nationale Offenheit des Romans hat Julya Rabinowich ganz bewusst gesetzt – und damit einer Tatsache Rechnung getragen, die nunmehr auch in Europa schmerzliche Aktualität erlangt hat:

Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.

Im Gespräch teilte Julya Rabinowich das traurige Dejavu, das sie mit der Publikation von Dazwischen: Wir erlebte: Während sie ihren ersten Band verfasst hatte, bevor sich 2015 und in den darauffolgenden Jahren unzählige Menschen aufgrund des Krieges in Syrien auf die Flucht begeben mussten, schrieb sie ihren zweiten Roman rund um Madina, bevor die darin verhandelten Ereignisse und Kriegsgeschehen in Europa abermals erschreckende Aktualität erhalten sollten.

Als Madina in Dazwischen: Ich begann, ihr Tagebuch zu schreiben, das beide der vorliegenden Romane speist, war sie 15 Jahre alt. Sie war gerade gemeinsam mit ihrer Familie (Vater, Mutter, kleiner Bruder, Tante) in jenem „hier“ angekommen, in dem sie und ihre Familie Fuß zu fassen versuchten: Sie lebten in einer schäbigen Unterkunft für Flüchtlinge, mussten sich mit schwer zu bewältigender Bürokratie, fremdenfeindlichen Vorurteilen und kriegsbedingten Traumata konfrontieren.

Nun, zu Beginn des zweiten Bandes, ist ein Jahr vergangen. Die – nach dem Ende des ersten Teils tragischerweise um ein Mitglied reduzierte – Familie hat ihre Asylbescheide nach vielen Monaten der Unsicherheit tatsächlich erhalten und lebt inzwischen in einer Wohnung, die ihnen die Mutter von Madinas bester Freundin Laura zur Verfügung gestellt hat. Allerdings sind damit keineswegs alle Schwierigkeiten überstanden. Die in Europa Übriggebliebenen straucheln mit ihrem (Nicht-von-)hier-Sein: Madinas Mutter kann sich kaum mehr zu etwas aufraffen und ihr Bruder Rami geht oft nicht rechtzeitig aufs Klo – wie die Kindergartenpädagogin Madina, die als einzige in der Familie gut Deutsch spricht, informiert.

Ihre ewige (Ver-)Mittlerinnenposition zwischen den Kulturen, den Erwachsenen und den Generationen will die Protagonistin jedoch endlich überwinden; nicht mehr die Übersetzerin und Ersatz-Verantwortliche spielen, endlich einfach nur Jugendliche sein. Langsam, Schritt für Schritt übt sich Madina im Widerstand gegen jene Rollen, die ihr aufgedrängt wurden; ebenso wie gegen jene Zuschreibungen, die ihr von unterschiedlichen Seiten übergestülpt werden. Es beginnt damit, dass sie nicht mehr „einfach nur“ übersetzt, was die Erwachsenen sagen, sondern auch in die Gespräche eingreift. Von der neutralen Über-mittlerin von Informationen wird sie so zunehmend zu einer aktiv beteiligten – ja, manchmal auch (fast) gleichberechtigten – Gesprächspartnerin.

Ihre eigene widerständige Stimme muss Madina insbesondere dann finden, als im Ort – und schließlich sogar auf der eigenen Hauswand – Schmierereien auftauchen, die xenophobe und rassistische Parolen artikulieren, und vermehrt Menschen auf die Straßen gehen, um gegen (die Aufnahme von) Migrant*innen und Flüchtlingen zu demonstrieren. Mehr noch als Dazwischen: Ich, das Julya Rabinowich als „Anti-Kriegs-Buch“ bezeichnet, setzt sich die Autorin im zweiten Teil nun mit der (sprachlichen ebenso wie physischen) Gewalt im Eigenen, in unserem Raum, auseinander. Dabei zeigt sie eindringlich, was es mit einem*einer machen kann, wenn man als Migrant*in zu einer – wie Madina es nennt – Schmutzzeitzeugin wird und dieserart verletzende, entmenschlichende Parolen im öffentlichen Raum lesen und hören muss. Parolen, die keine oder kaum Widerworte von offizieller Seite finden: Weder werden die immer wieder auftauchenden Schmierereien von der Polizei regelmäßig entfernt, noch schreitet die Schule ein, als Madina mit Fremdenfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus konfrontiert wird, sodass die Ich-Erzählerin in ihrer Vulnerabilität und Marginalisierung noch stärker benachteiligt wird.



Gegenüber dieses leider auch in der außerfiktionalen Welt allzu häufig auftretenden institutionellen Versagens war es Julya Rabinowich besonders wichtig, mit der bereits im ersten Band auftretenden – und dort durchaus ambivalent gezeichneten – Frau King im zweiten Teil nun eine positiv besetzte, konstruktiv agierende Lehrer*innenfigur zu schaffen, die Madina in mehrerlei Aspekten zur Seite steht und die – so Julya Rabinowich im Gespräch – unter den Erwachsenen im Roman die wahre Heldin darstellt. Nichtsdestotrotz bleibt Madina aber freilich im Zentrum des Textes. Madina, die anders als die meisten Erwachsenen, schon von Anfang ein Gespür dafür hat, dass die Anfeindungen, denen sie zunehmend ausgesetzt ist, über individuelle Ausgrenzung und Mobbing hinausgehen. Die strukturelle Dimension von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ebenso wie die Frage, was diese mit Madina und mit unserer Gesellschaft machen, wird im Roman besonders eindrücklich und anschaulich herausgearbeitet:

Die Lehrer sind auch nicht ganz eindeutig einzuschätzen: Der Obertrottel hat ein Ausländer-raus-Shirt unter seiner Lederjacke getragen und das unbehelligt den ganzen Vormittag. Bis ihn der Biolehrer in der vorletzten Stunde aus der Klasse warf. Nach Hause gehen, umziehen. Und eine Extraarbeit schreiben. Aber alle anderen davor haben nicht reagiert. Entweder, weil sie es übersehen haben. Oder eben nicht. Ich will mir gar nicht überlegen müssen, ob es jemandem ganz egal war. Oder sogar … nicht ganz egal. Hätte ich so was letztes Jahr gedacht? Nein. Klar, ein paar haben mich gehänselt, manche haben sich über meine Deutschfehler lustig gemacht. Über meine seltsame Kleidung aus der Wühlkiste. Aber das hier ist etwas anderes, Größeres, Dichteres, es geht weit über den Schulhof und ein paar Deppen hinaus, und ich fühle, wie diese Stimmung mich zu erschlagen beginnt, beginnt mich auszudünnen in meinem Selbstvertrauen, ich hätte einen Platz hier, ich wäre ein Teil von etwas. Hier geht es nicht um meine abgetretenen Schuhe oder meine zu großen Sportklamotten. Und: Es wird erschreckend schnell so … gewohnt.

Der Mehrfachbelastung und Mehrfachbenachteiligung migrantischer Jugendlicher, insbesondere Mädchen und Frauen, die in der Literatur und im (gesellschafts-)politischen Diskurs zu wenig Beachtung findet, eine Stimme zu geben, war Julya Rabinowich ein zentrales Anliegen. Und wie könnte dies unmittelbarer und konkreter geschehen als durch die Form eines fiktionalen Tagebuchs? In ihren eigenen Worten kann Madina darin ihrem Kampf, ihr eigenes Ich zu bewahren – bzw. jenes Ich, das sie gerne leben würde, überhaupt sein zu können –, Ausdruck verleihen. Dabei führt sie uns, jugendlichen wie erwachsenen Leser*innen, vor Augen, dass wir als Gesellschaft, aber auch wir als Individuen, an einer Wegscheide stehen, an der wir uns entscheiden müssen …

Dass diese Prozesse äußerst zäh sind und uns oft mehr Standhaftigkeit und Durchhaltevermögen abverlangen, als uns lieb ist, hat nicht zuletzt die jüngst zu Ende gegangene Eintragungswoche für aktuelle Volksbegehren in Österreich gezeigt: Als einziges erlangte das >>> Black Voices Volksbegehren, das sich unter anderem für einen nationalen Aktionsplan gegen Rassismus einsetzt, nicht die nötigen 100.000 Stimmen, um im Parlament besprochen zu werden. Sich von dieser Tatsache nicht entmutigen zu lassen, ist auch eine Entscheidung. Sich mithilfe von starken, resilienten (weiblichen) Figuren wie Madina Mut anzulesen ebenso. Nur gut, dass der dritte (und laut Autorin voraussichtlich letzte) Teil der Dazwischen-Serie nicht mehr lange auf sich warten lässt.


Claudia Sackl

 




 

 


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Juli & August 2022

 

 

Isabella Feimer / Manfred Poor: American apocalypse. Gedichte & Fotografien.
Mit einem Nachwort v. Erwin Uhrmann.
Innsbruck/Wien: Limbus 2021.

die Welt eine Sanduhr
die Straße
die wir fahren
bleibt immer das entfernteste Ziel
du einer
der nicht in den Sonnenuntergang reitet
ich eine
die den Horizont verweigert
Richtungen sind immer Ansichtssachen

Zwischenstopp in der hoffnungslosen Perfektion
mit Namen landscape
kurzweilige Eskapismusfantasie in cinemascope
aus der Einöde
die uns verlebte Gesichte spiegeln

ansonsten spiegelt nicht etwas
im Nichts liegt Vertrautheit
sie löscht Geschichten aus

Billy the Kid Country,
New Mexico

Von 2016 bis 2018 reisten die Autorin Isabella Feimer und der Fotograf Manfred Poor durch Nordamerika. Drei Jahre später haben sie in einem gemeinsamen Bild-Text-Band unter dem Titel American apocalypse jene inneren und äußeren Begebenheiten versammelt, die sich unterwegs zwischen den Zeilen der Zeit verloren haben, die am Wegrand gefunden wurden – und mithilfe derer die beiden österreichischen Künstler*innen ihre Reiseroute, ihre Bewegungslinien und Zwischenstationen, poetisch-kreativ nachzeichnen. Gedichte & Fotografien heißt es im Untertitel – zwei Textsorten bzw. Medienformen, die in dem vorliegenden Buch auf künstlerisch-eindrucksvolle Weise miteinander in ein nuanciertes Wechselspiel gebracht werden.

Mal doppel-, mal einseitige Fotografien wechseln sich dabei nicht nur mit lyrischen Verszeilen ab, sondern legen sich an manchen Stellen auch übereinander. Text und Bild treten so in einen vielschichtigen Austausch – gemeinsam erzählen sie von jenen Orten, die Isabella Feimer und Manfred Poor besucht haben und aus dessen Eindrücken, Momentaufnahmen, Erinnerungen sie sich speisen. Gedichte und Fotografien fügen sich dabei zu einem vielstimmigen Kaleidoskop, das mit dem Begriff „Reisetagebuch“ nur unzulänglich beschrieben werden kann. Auf formaler Ebene tauchen Strukturen eines Tagebuchs aber durchaus immer wieder auf: In Schreibmaschinen-getippten Buchstaben wird dem Ende jedes Gedichts wird zwar nicht das Datum, dafür aber die Stadt und der Bundesstaat hinzugestellt. Wie in einem assoziierenden, dialogischen Nachhinein hinzugefügt sind den Texten darüber hinaus immer wieder handschriftliche (Vers-)Zeilen beigestellt, die die Gedichte weiterspinnen, neue Deutungsdimensionen eröffnen oder einen Kommentar auf die abgedruckten Fotografien formulieren. Nicht nur diese Textpassagen sind oftmals in englischer Sprache verfasst, auch in die Gedichte werden ab und an nicht-deutsche (zumeist englische, teilweise aber auch spanische) Versatzstücke eingeflochten.

ich lande die Untertasse in einem Schaufenster der Hauptstraße
glass breaks I’m sorry main street alien hell that’s me heatwave lähmt
den Tag lähmt auch mich und wieder mache ich eine Bruchlandung
diesmal in einem Schnellimbiss Im sorry that’s me Verlegenheits-
coffee-to-go an einer Tankstelle überzuckertes Unverständnis
Missverständnis so sorry klein bin ich grün bin ich blass und covered
in plastikähnlicher Haut Im sorry auch mein Herz ist Plastik das
zerdrückt und zerknittert ist steht auch still im Abendlicht the
traffic stops hell I’m sorry because of me im Motel wieder ich alleine
alienated me switched sich durch Kanäle und durch die Minibar hell
I’m drunk that’s me as well chocolate chip Krümel unter der Bettdecke
ich habe große algengrüne Augen die durch Wände sehen und hören
können lost and lonely in rundherum Adobeluft nichts zu machen it
doesn’t matter how hard I try mein spaceship ist stranded und trägt
mich the hell with it nicht davon

Auch experimentellere Texte wie diese elliptisch-prosaische Innere-Monolog-Passage, die auf jegliche Interpunktion verzichtet, finden sich in dem sorgfältig gestalteten Band, der nicht zuletzt durch seine haptische und grafische Aufmachung besticht: Mit dickem Papier und Lesebändchen ausgestattet setzt American apocalypse nicht nur den in Fotografie und Poesie erzählten Raum eindrucksvoll in Szene, sondern gestaltet auch den Erzählraum im Buch grafisch aus. Anstatt die Verszeilen auf leerem weißen Hintergrund abzudrucken, sind sie auf unterschiedlichen Hintergründen positioniert – mal auf grau oder beige meliertem, mal auf zerknittertem weißem Papier, auf dem hin und wieder auch morgendlicher Kaffee oder Zigarette ihre Spuren hinterlassen haben – und immer wieder auch direkt in den Fotos platziert.

Menschen treffen wir in diesen kaum einmal an. Weite Landschaften, hohe Glasbauten und zivilisatorische Überbleibsel – Hochburgen ebenso wie Ruinen und Gegenorte des Kapitalismus – sind es, die die Bildkompositionen bestimmen. Deindustrialisierung und (post-)apokalyptische Stimmung steigern sich ins Grotesk-Abstruse, wenn sich zwei Alienpuppen zum Kartenspielen an einem staubbedeckten Tisch treffen. Wenn Reste von in sich zusammengefallenen Häusern fragmentarisch fokussiert werden. Oder verblichene, urbane Street Art in ihrer ästhetisierten Gesellschaftskritik aufgegriffen und neu inszeniert wird. Die oft melancholischen Stimmungen, die in den Fotografien erzeugt werden, greifen auch die Texte immer wieder auf. Gemeinsam verstehen es die zwischen Stereotypen und deren Brechungen changierenden Narrative, die Paradoxien Amerikas kritisch, künstlerisch und zugleich auch humorvoll zu verhandeln. Das Verhältnis des (sprechenden, schreibenden oder sehenden) Ichs zu jenem Raum, in dem es sich befindet und bewegt, wird dabei auf differenzierte Weise ausgehandelt: mal ironisch gebrochen, mal sehnsüchtig imaginierend, dann politisch direkt.

Wie lässt sich ein Amerika erfahren, wenn nicht in der Bewegung? – fragt der Verleger Erwin Uhrmann in seinem Nachwort, in dem er die Gedichte und Bilder Isabella Feimers und Manfred Poors in Dialog mit der Beat-Generation und den Werken des italienischen Filmregisseurs und Dichters Pier Paolo Pasolini setzt. Aber bereits der Band selbst tritt mit verschiedenen Intertexten über das Reisen bzw. von Reisenden in Austausch, wenn die verschiedenen Kapitel von Zitaten von Schriftsteller*innen und Künstler*innen wie Jack Kerouac, Andy Warhol, Frida Kahlo oder Margaret Atwood eingeleitet werden und so vielstimmige Resonanzen zwischen den nachfolgenden visuellen und lyrischen Eindrücken erklingen lassen.


Claudia Sackl

 




 

 

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Juni 2022

Han Kang: Die Vegetarierin.
atb 2017.

Ich hatte einen Traum.

Yong-Hye ist ihrem Mann zufolge eine Frau, die vom Aussehen bis zum Charakter an Durchschnittlichkeit nicht zu übertreffen ist; und gerade deshalb genügt sie ihm in ihrer Rolle als Ehefrau. Er selbst möchte möglichst unaufgeregt seinem Bürojob nachgehen, zu Hause ein beschauliches und normkonformes Leben führen. Eines nachts aber findet er seine Frau wie in Trance vor dem Kühlschrank hockend, konzentriert dabei, alles gelagerte Fleisch daraus zu entfernen. Ein Traum habe sie dazu gebracht, wird sie von da an wiederholt sagen, ein beunruhigender Traum, der sie nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Sie verweigert ab dieser Nacht den Konsum und die Zubereitung jeglicher tierischer Produkte. Eine vermeintlich unbedeutende, weil ja auch persönliche Entscheidung, die aber zur Bruchstelle wird, entlang derer hierarchisch geprägte Gewaltverhält-
nisse offengelegt und in ihrer Brutalität greifbar werden – während Yong-Hye mit ihrem Wunsch, ihren menschlichen Körper zu überwinden und zum pflanzlichen Organismus zu werden, der Welt immer mehr zu entrücken scheint.

Schonungslos und doch mit einer beeindruckenden sprachlichen Schönheit erzählt die südkoreanische Autorin Han Kang die Geschichte ihrer Protagonistin aus drei Fremdperspektiven (Abschnitte, die in Südkorea zunächst als einzelne Kurztexte erschienen sind). Im ersten Teil, Die Vegetarierin, werden aus der Sicht ihres Ehemannes die Ereignisse von Yong-Hyes Entscheidung bis zu einem dramatischen familiären Zwischenfall aufgeschlüsselt, dem zum ersten Mal ein stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie folgt. Offenbar wird in diesem Abschnitt die zutiefst gewaltvolle, im Kern patriarchale Natur der Beziehungen, in denen sich die Figuren exemplarisch befinden; es ist gerade die permanente Bedrohung, die vom Zwischenmenschlichen ausgeht und die sich auch in der Unbarmherzigkeit anderen Kreaturen gegenüber ausdrückt, die Yong-Hye keine Ruhe lässt. Typografisch abgesetzte, kursivierte Textpassagen in diesem ersten Teil sind die einzigen sprachlichen Artikulationen der Protagonistin selbst, deren Kommunikations-
zusammenhang jedoch offen bleibt. Hier werden auch die brutalen Traumbilder, die sie heimsuchen, expliziert, die an ein Gefühl von Machtlosigkeit gebunden sind, das zum Akt des Verweigerns führt:

Was sich dort festgesetzt hat, das sind Schreie und Gebrüll. Und die kommen vom Fleisch. Ich habe zu viel davon gegessen. All die Seelen sind dort eingeklemmt, da bin ich sicher. Blut und Fleisch werden verdaut, die Nährstoffe überall im Körper verteilt Aber die Seelen klammern sich hartnäckig in meinem Magen fest. Ich möchte einmal, ein einziges Mal einen großen Schrei ausstoßen können. Ich möchte in die Dunkelheit hinauslaufen, die sich jenseits der Fensterscheibe befindet. Würde das den Knoten auflösen können? Wäre das möglich?

Kunstfertig nutzt die Autorin die Möglichkeiten des mehrperspekti-
vischen Erzählens, wenn sie die schmerzhafte Brutalität des ersten Teils im zweiten Part, Der Mongolenfleck,mit der Utopie einer gewaltlosen zwischenmenschlichen Vereinigung konterkariert. Hier wird, zwei Jahre nach den vorangegangenen Ereignissen, aus der Sicht von Yong-Hyes Schwager erzählt, einem Videokünstler in der Schaffenskrise. Als dieser erfährt, dass über Yong-Hye Gesäß noch immer ihr Mongolenfleck – eine Pigmentierung, die sich normaler-
weise nach der Kindheit verliert – sichtbar ist, tut sich ihm nach langer Zeit die Vision einer neuen künstlerischen Arbeit auf. Zwei Menschen, ihre Körper über und über mit floraler Ornamentik verziert, die sich lustvoll ineinander auflösen; ein Bild, das immer obsessiver wird, und von dem er glaubt, es nur mit seiner Schwägerin selbst umsetzen zu können. Die erotischen Annäherungen stehen dabei immer im beunruhigenden Spannungsfeld zwischen dem Begehren der Figuren und der Ungewissheit über die psychische Verfasstheit der Protagonistin. So müssen die Ereignisse im dritten Teil, Bäume in Flammen, schließlich in der Perspektive von Yong-Hyes Schwester kulminieren, die hilf- und ratlos zwischen den Scherben des in sich zusammenfallenden Familienkonstrukts zurückbleibt.

Han Kang versteht es trotz ihres behutsamen Umgangs mit den Figuren, zwischenmenschliche Beziehungen ungeschönt und brutal vor den Leser*innen zu sezieren. Und während die Protagonistin für die gewaltvollen Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sie sich befindet, zum unberechenbaren Störfaktor wird, schwingt im Aufbegehren – Wartet sie auf eine Antwort? Lehnt sie sich gegen etwas auf? – doch auch eine vorsichtige Hoffnung mit.   


Sarah Auer

 




 

 


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Mai 2022

 

 

Drôle – Einfach komisch. TV-Serie von Fanny Herrero
Netflix 2022.
1 Staffel in 6 Episoden.

In ihrer seit März 2022 auf Netflix verfügbaren Serie erzählt die französische Regisseurin Fanny Herrero, die bisher vor allem für ihre Comedy-Serie Call my Agent! (seit 2015) bekannt war, von vier jungen Stand-Up-Comedians, die versuchen in der Pariser Comedy-Szene Fuß zu fassen. Da ist zum einen der talentierte Wortakrobat Nezir (Younès Boucif), der algerische Wurzeln hat und gemeinsam mit seinem erkrankten Vater in einer kleinen Wohnung in den Banlieues lebt, wo die beiden gerade so über die Runden kommen. Zum anderen ist da Bling (Jean Siuen), der Manager des titelgebenden Comedy-Clubs Le Drôle und Sohn vietnamesischer Eltern, der den Höhepunkt seiner Karriere bereits hinter sich hat und nun mit dem Bergab nach dem medienwirksamen Durchbruch zu kämpfen hat. Ein solcher ist gerade Aïssatou (Mariama Gueye) gelungen, die als junge Schwarze Comedian, Ehefrau und Mutter die Grenzen dessen auslotet, was auf der Bühne als sozial akzeptabel gilt. Zuletzt ist da noch Appoline (Elsa Guedj), die aufgrund des Wohlstandes ihrer Familie zwar eine Vielzahl an Privilegien genießt, ihre Zeit aber lieber heimlich im Drôle als an der Privatuniversität verbringt, um dort die Kunst des Stand-Up zu erlernen und erste eigene Schritte in der Szene zu tun. Von dem Berufswunsch ihrer Tochter, der so gar nicht in das Bild der perfekten, gehobenen Familie passt, hält die alleinerziehende, an Depressionen leidende Mutter jedoch wenig.  

In ihrer Auseinandersetzung mit Stand-Up-Comedy als Unterhaltungs- und Kunstform fragt die aus sechs Episoden (zu je ca. 45 Minuten) bestehende TV-Serie nicht nur nach den Funktionsweisen, Produktionsbedingungen und Machtverhältnissen der Comedy-Industrie, sondern eröffnet auch differenzierte Blicke hinter die Kulissen in das alltägliche Leben der fiktiven Humor-
künstler*innen. Dass sich diese Realitäten sowohl mit Blick auf Geschlechterrollen, kulturelle Herkunft [1], sozialen Status und körperliche sowie psychische Gesundheit als äußerst divers erweisen, zeugt von jenem gesellschaftskritischen Anspruch der Serie, der auch ihrer Thematisierung von Komik und Humor innewohnt. Wie ein Witz (aus einem Alltagserlebnis, einer Begegnung, einer Diskriminierungserfahrung oder auch aus stereotypen Vorstellungen) entstehen kann, was wo (in welchem Kontext) wie (mit welchen Worten) und von wem erzählt werden kann und wo die (gesellschaftlichen sowie persönlichen) Grenzen der Komik liegen, wird in Drôle durchaus kritisch, immer aber mit Humor hinterfragt.

Die unterschiedlichen Erzählstränge verschränkt die Serie auf gelungene, eindringliche Weise. Sofort fühlt man mit den in unterschiedliche Beziehungsformen zueinander tretenden Charakteren, denen wir entlang deutscher Untertitel im französischen Originalton folgen. Dass dies trotz der fremdsprachigen Präsentation möglich ist, ist einerseits dem überzeugenden Cast zu verdanken, der sich – erfrischender Weise – weitgehend aus noch recht unbekannten, aber deshalb nicht weniger talentierten Schau-
spieler*innen zusammensetzt. Und auch reale Stand-Up-Comedians wie etwa Shirley Souagnon (siehe hierzu auch Fußnote [1]) treten vor bzw. hinter der Kamera auf den Plan.

Andererseits gehen einem*einer als Zuseher*in auch die feinfühlig erzählten Lebens- und Berufswege nahe. Selbst an ihren schlechtesten Tagen raffen sich die Künstler*innen auf, um auf die Bühne zu treten, und tun dort ihr Bestes, um dem Publikum ein Lachen zu entlocken. Die Standhaftigkeit der Figuren, die sich in ihrem Willen und ihren Überzeugungen trotz so einiger schwieriger Rückschläge nicht erschüttern lassen, wird nicht zuletzt in dem englischen Titel der TV-Serie deutlich: Anstatt den französischen Originaltitel zu übernehmen (der übrigens so viel wie „lustig“ oder „komisch“ bedeutet), entspinnt dieser ein doppeldeutiges Sprachspiel. Mit „Standing Up“ verweist er nicht nur auf die in der Serie behandelte Kunstszene, sondern eröffnet auch Assoziationen zu Wortbedeutungen wie aufstehen, sich (wieder) aufrichten, sich widersetzen, nicht aufgeben. Ganz in diesem Sinne verliert die Serie bei all den darin angesprochenen gesellschaftlichen Problemen auch nie ihren Humor. Herzlich gelacht wird dabei nicht nur auf, sondern auch vor der Leinwand bzw. dem Bildschirm.

Claudia Sackl

 

Fußnote [1]:

In seiner Rezension zu Drôle im Guardian weist der Journalist Brian Logan auf die ausgeprägte kulturelle Diversität der französischen Stand-Up-Szene (nicht zuletzt im Kontrast zu ihren englisch- oder auch deutschsprachigen Gegenübern) hin. Anhand eines Witzes der französisch-ivorischen Künstlerin und Humoristin Shirley Souagnon veranschaulicht er zudem die Verschränkung von Klasse, Hernkunft/Race und und einem in weiten Kreisen immer noch etablierten Verständnis von „Hochkultur“:

Do you know the difference between theatre and standup?
The colour.

Frei übersetzt:
Kennen Sie den Unterschied zwischen Theater und Stand-Up?
Die (Haut-)Farbe.

Der gesamte Artikel von Brian Logan ist >>> hier (auf Englisch) nachzulesen.

 




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 






Shirley Souagnon
Foto © Hari Ziyad

 


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April 2022

 

 

Teresa Präauer: Mädchen.
Wallstein 2022.

Es ist eine verzwickte Lage, in der sich die Erzählerin (eine literarische Selbstinszenierung der Autorin) zu Beginn von Teresa Präauers neuestem Text befindet: Nach nur einem kurzen Nickerchen erwacht sie gefesselt, umringt und beklettert von geschäftigen Playmobil-Piraten, Star Wars- und Ninjago-Figuren, auf dem Zimmerboden eines Neunjährigen, auf den sie gerade aufpasst. Wie Gulliver auf seinen Reisen festgesetzt hat sie Zeit zum Beobachten und Reflektieren, während der Junge um sie herum spielt, rastet, isst, tobt und döst. Im Zimmer finden sich Schätze, die sein Kind- und Junge-Sein wohl irgendwie mit ausmachen: ein Gummiball mit bunten Alufäden, ein Harry Potter-Schloss, die vielen Figürchen, ein Buch mit dem Titel Hundert Dinge, die ein Junge wissen muss. Und die Erzählerin? Die macht inspiriert von dem Gesehenen einen Gedankensprung in die eigene erinnerte Kindheit, in ihr Mädchen-gewesen-Sein, und startet eine behutsame, assoziative Annäherung:

Das Mädchen ist dabei Thema, Wort, Figur, Projektionsfläche, Trope und Symbol. Wer über das Mädchen nachdenkt, denkt über Anfänge nach. Ich will mich erinnern können.

In ihrem Buch verflicht die österreichische Autorin sehr persönliche Erinnerungen an ihre Familie, die Schulzeit und das Flügge-Werden in der großen Stadt mit der Gegenwart im Kinderzimmer. Geschickt spielt sie mit der Behaglichkeit jenes nostalgischen Schleiers, der sich nur allzu gerne über Kindheitserinnerungen legt. Dabei werden sowohl die eigene Rückschau als auch dingliche Erinnerungsstücke auf ihren realitätsbildenden Gehalt hin befragt: Unser Vater setzte die Szenen gekonnt ins Bild. Zwei Mädchen mit Würmern in den Schürzentaschen, kommentiert sie etwa ein (letztlich auch zurechtimaginiertes) Foto von ihr und ihrer Schwester, nur um wenig später nachzusetzen: Würmer hatten wir übrigens nie in den Taschen, wir trugen auch kaum je Schürzen. In Anlehnung an andere Mädchenbilder aus Literatur und bildender Kunst wird das Mädchen-Sein als ein Zustand erkundet, der nach dem Entwachsen nicht mehr zugänglich und doch identitätsbildend ist; als eine Empfindung, die zwar der eigenen, aber doch einer ganz anderen Lebenswelt zugehört. In Anlehnung an Annie Ernauxs Erinnerungen eines Mädchens (Suhrkamp 2016) heißt es da:

Um das Mädchen in diesen Bildern zu sein, müsste ich Ballett tanzen im Anfängerkurs, buntes Seidenpapier zu kleinen Kugeln rollen und im Herbst auf Kastanien kleben, mich im Fasching als Rotkäppchen verkleiden, unterm Arm einen Korb, befüllt mit Gugelhupf und einer Flasche Rotwein, ein Wort wie Juchhu in Großbuchstaben schreiben üben. Ich müsste mich vor Räubern und Hexen fürchten, Kirschen pflücken und akrobatische Turnübungen an Seilen und Ringen vollführen.

Dieses Erinnern, Nachdenken und Verflechten bildet den Kern des Texts, der durch das lustvoll paradoxe Zwiegespräch mit dem Jungen in der Rahmenhandlung aber auch zum Essay über die Fiktion an sich wird. So kann die doch auch glaubhafte Szenerie ganz unverhofft kippen, wenn sich der Neunjährige etwa als Kenner literaturwissenschaftlicher Theorien herausstellt, die Erzählerin sich in Konversation mit ihrem jüngeren Ich begibt oder eben Spielfiguren lebendig werden. Das Erinnern und das Schreiben werden als verwandte Prozesse herausgearbeitet; eine Verwandtschaft, die aber nicht unmissverständlich ausformuliert, sondern am Beispiel des Texts vorgeführt wird.

Das Entlanghangeln von Gedankenbild zu Gedankenbild, das Wechselspiel zwischen schrittweisem Weitererzählen und Illusionsbruch, lässt vieles in der Schwebe und gibt damit die Freiheit, noch einmal ganz anders auf das (Schreiben über) Mädchen zu schauen. So führt die Erzählerin zwar manchmal in die Irre, sie begleitet die Leser*innen aber auch durch das Textgewebe. Und wie diese eloquente Reisebegleiterin lässt sich auch das Mädchen nicht festlegen; seine Zuschreibungen changieren zwischen romantischer Verklärung und kategorischer Herabsetzung, zwischen Mädchen im Kleidchen mit Blümchen im Körbchen und Rebellion gegen vorgefertigte Rollenbilder. Es ist eine verspielte, raffinierte, humorvolle Annäherung, die einen Bogen schlägt von der individuellen Kindheit zur medialen Imagination:

Das Mädchen ist eine Aktionistin, das Mädchen ist ein Anblick, es ist etwas, und wir werden ihm damit nicht gerecht, zwischen Göre und Prinzessin, zwischen Diffamierung und Beschönigung. Das Mädchen ist eine Kämpferin und so etwas wie eine Symbolfigur, die bewundert wird oder kritisiert oder verleumdet. Das Mädchen ist manchmal bereits älter, als es aussieht. Es trägt Zöpfe und wirkt damit harmlos, aber es ist voller Wut auf die Ungerechtigkeit in der Welt und führt den Klimastreik an. Und auch dieses Mädchen gibt es: Es trägt nichts als ein rotes Kleid und stellt sich schutzlos gegen die bewaffnete Polizei. Und jenes: Es hält eine Rede vor der UN-Vollversammlung, nachdem man ihm ins Gesicht geschossen hat. Und dieses fällt mir auch ein: Es segelt allein um die Welt.

Sarah Auer


Der theoretische Unterbau zum Essay – Teresa Präauers
Zürcher Poetik-Vorlesungen – ist übrigens online verfügbar: www.ds.uzh.ch

 




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März 2022

 

 

Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg. Roman.
Nach einer wahren Begebenheit

Residenz 2022.

In seinem neuen, Mitte Februar erschienenen Roman thematisiert Vladimir Vertlib – der vor wenigen Wochen bei unserer Fernkurs-Tagung »Randschaften« in Salzburg zu Gast war – jenen Konflikt, der seit den vergangenen Wochen im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit steht. Ohne vorausahnen zu können, welch entsetzliche Aktualität sein Text schon so bald nach dessen Erscheinen erhalten würde, setzt sich der Autor darin mit den politischen, sozialen und persönlichen Wirren im postsowjetischen Raum auseinander:

In jener namenlosen osteuropäischen Hafenstadt, in der der Roman angesiedelt ist und die sich gerade von den Folgen der Corona-Krise erholt, herrscht Bürgerkrieg. Rebell*innen haben sämtliche Zufahrtsstraßen blockiert, der Flughafen ist zerstört und Paul Sarianidis arbeitslos. Der frühere Flugzeugingenieur ist ein fürsorglicher, liebevoller Familienvater und lebt mit seiner Mutter Eva, seiner im Krankenhaus Dauerschichten schiebenden Frau Flora und seiner gerade ins Teenageralter gekommenen Tochter Lena in einer gemeinsamen Wohnung.

„Krisen sind Glanzzeiten für das Netz.“

Des Nachts jedoch treibt sich Paul in Internetforen herum, wo sich die anonymen User*innen politische Streitgespräche liefern, die nicht selten in wüsten Beschimpfungen und Gewaltandrohungen enden. Diesen emotional aufgeladenen Disputen kann sich Paul nicht entziehen. Eines Nachts lässt er sich dazu hinreißen, üble Hass-Postings an einen ihm unbekannten Mann abzuschicken. Dass es sich dabei um den Separatist*innenanführer Boris Lupowitsch handelt, erfährt er erst später, als dessen Handlanger – kurz nach der Eroberung der Stadt – bewaffnet vor Pauls Tür stehen und ihn vor seinen erzürnten Widersacher führen. Dieser hat sich einen ausgeklügelten Racheplan überlegt: Vor laufender Kamera wird Paul gedemütigt und das Video davon auf YouTube veröffentlicht, wo es innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Klicks verzeichnet und Paul über Nacht zum Gespött der Stadt macht.

Als Konsequenz erfährt nicht nur seine Tochter Ausgrenzung in der Schule, sondern auch Paul bekommt den Hass der Leute leibhaftig zu spüren. Aufgestachelt von dem faschistischen Propaganda des diktatorischen Systems, das in der Zwischenzeit von den neuen Machthaber*innen eingerichtet wurde, befördert ihn eines Tages ein wilder Mob in einem beängstigenden „Entsorgungs“-Ritual in eine Bio-Mülltonne – in die zuvor auch schon eine kritische Theaterdirektorin gestoßen wurde. Dabei führt Vladimir Vertlib nicht nur vor, wie erschreckend rasch sich die allgemeine Meinung in einer Krisensituation – entsprechend dem jeweiligen etablierten politischen System – drehen, wie leicht die Stimmung in einer Gesellschaft kippen kann. Er unterfüttert seine Erzählung auch mit einer ordentlichen Portion Ironie und entwirft immer wieder skurrile Szenen, die ihren bitteren Ernst gerade durch ihre fast Slapstick-hafte Komik – über die man an kaum einer Stelle unbeschwert lachen kann – untermauern.

„Papa, da draußen ist ein Zebra!“

Die Absurdität der festgefahrenen Situation in der zerrütteten Stadt, die noch nicht [weiß], ob sie erobert oder befreit worden ist, wird nicht zuletzt in der titelgebenden Figur des immer wieder auftauchenden Zebras verdichtet, das aus dem zerstörten Zoo entlaufen ist und zum (fast grotesken) Inbegriff der (politischen sowie sozialen) Ausnahmesituation wird:

[Paul] schaut hinaus und sieht – ein Zebra. Es steht auf der anderen Straßenseite, am Abhang, genau am oberen Ende der Treppe, die an den geköpften Statuen vorbei in die Innenstadt hinunterführt, und rührt sich nicht vom Fleck.
[…] Die Menschen gehen mit einer Gleichgültigkeit an dem Tier vorbei, als handle es sich um eine Katze, einen Hund oder einen alltäglichen Gegenstand. […] Und was das Erstaunlichste ist: Niemand fotografiert das Tier mit dem Handy!
Es fällt Paul auf, dass die Menschen von Tag zu Tag verschlossener werden. Sie nehmen nur mehr sich selbst wahr und flüchten in ihre eigene, innere Welt, als seien sie mit der Zeit und der Welt um sie herum in eine Schockstarre verfallen, genauso wie das Zebra, das sich mitten auf dem Gehsteig minutenlang nicht vom Platz rührt.

Was Paul hier mit Blick auf den Lebensalltag in seiner Stadt diagnostiziert, wird an anderen Stellen des Romans auch in Bezug auf die (global zu beobachtenden) Tendenzen in sozialen Netzwerken formuliert.

Wenn man Gesprächspartner nur noch als Profile oder Fotografien und nicht als reale Menschen wahrnimmt, kann das sehr schnell zu Enthemmung führen. Zu Dynamiken, die Konflikte und Polarisierungen verschärfen.

– so Vladimir Vertlib in einem Interview mit der taz.

„Was heißt denn wirklich?“

Anstatt jedoch eine einfache Parabel auf die Gefahren des anonymisierten Internets zu verfassen, hat Vladimir Vertlib mit Zebra im Krieg einen vielschichtigen Roman vorgelegt, der beklemmende Tendenzen unserer Gesellschaft mit einer Stadt im Ausnahmezustand verschränkt – und dabei unheimlich nah an unserer Wirklichkeit scheint. Und das nicht nur, weil die zu Beginn erwähnte Sache mit dem Video auf einer „wahren Begebenheit“ (wie schon der Untertitel des Buches nahelegt) basiert:

Die Szene mit dem Video beruht auf Tatsachen. Sie hat sich vor einigen Jahren in der Ukraine zugetragen. In meinem Roman habe ich die Stadt allerdings ans Meer verlegt. Ich hatte ein bisschen Odessa im Kopf, es könnte aber auch Mariupol, Sewastopol oder Sotschi sein. Ich habe es bewusst offen gelassen. Ich wollte kein Schlüsselbuch über den Ukraine-Konflikt oder das System Putin schreiben. Vielmehr handelt es sich um einen exemplarischen Fall für die Verhältnisse an der Peripherie Europas. (Vladimir Vertlib)

Dennoch könnten viele der geschilderten Diskurse direkt aus der aktuellen Realität gegriffen sein. Beispielsweise wenn die junge Lena in den familiären Diskussionen immer wieder – die offiziellen Erzählungen wiederhallend – trotzig dazwischenruft: „Das ist kein Krieg […]. Das ist eine erweiterte Polizeiaktion …“

„Papa, es ist Frieden!“

Dieser hoffnungsvolle Ausruf der Tochter an den Vater rahmt den Roman – und die politischen Machtwechsel in der Heimatstadt des Protagonisten. Paul, der komisch-tragische (Anti-)Held der Geschichte, ist in Zebra im Krieg jedoch nicht nur die Figur, durch deren Augen wir als Leser*innen das Geschehen beobachten. Auch auf der Ebene der Romanhandlung wird er zu jenem Erzähler, dessen Geschichten vor allem der Tochter dabei helfen, die Nächte zu durchwachen – und so Hoffnung auf ein gemeinsames Danach machen.

Claudia Sackl

 

 



vladimirvertlib.at

 

 




 

 

 





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 


 


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Februar 2022

 

 

Julia Lacherstorfer: Spinnerin. a female narrative
Lotus Records 2020.

Julia Lacherstorfer ist derzeit gewiss eine der umtriebigsten, innovativsten und dabei auch spannendsten Künstler*innen an der diffusen Grenze zwischen Klassik, Weltmusik und Volksmusik, die in Österreich seit mehreren Jahren immer kreativer und lustvoller bespielt wird. Ob mit ihrer fünfköpfigen Band ALMA, dem Duo Ramsch & Rosen, als Komponistin oder Intendantin der wellenklænge (einem Festival für zeitgenössische Musik) in Lunz am See – ihre Arbeiten bereisen das Eigene, nehmen es musikalisch auseinander und knüpfen seine Fäden an andere musikalische Traditionen an. 2020 ist ihr erstes Soloprojekt Spinnerin erschienen, für dessen Grundidee sie als kompositorische und ethnomusikologische Pionierin einiges zu leisten hatte.

Volkslieder aus weiblicher Perspektive sollten auf dem Album versammelt werden; aber wo eine Perspektive hernehmen, die in den meister der bisher tradierten Liedern kaum oder nur durch einen anderen Blick verzerrt vorhanden zu sein scheint? Wer sich im alpenländischen Liedgut auf die Suche nach Frauenfiguren macht, findet zunächst einmal Liebeslieder auf umworbene Dirndln auf blühenden Almen, Klagen über Liebeskummer, Ammen- oder Wiegenlieder. Ein recht einseitiges Bild, das sich – auch in romantisierender Selbstbeschauung – über die Jahrhunderte verfestigt hat. Julia Lacherstorfer setzte für ihre Recherche abseits dieser Klischees an, durchforstete Archive, schrieb um und komponierte selbst. Als narrativen Grundstock führte sie Interviews mit Frauen und stützte sich auf Quellen der „Oral History“, so etwa das von Rosa Scheuringer herausgegebene Buch Bäuerinnen erzählen: vom Leben, Arbeiten, Kinderkriegen, Älterwerden (2007).

Stellen wir uns Geschichte als Gewebe vor, auf dem sich als Musterung zuerst die großen, identitätsstiftenden Erzählungen exponieren, muss doch auch gefragt werden, woher die Fäden kommen, aus denen es sich zusammensetzt. Unterschiedliche Formen textilen Handwerks wurden und werden seit Jahrhunderten stark mit Weiblichkeit assoziiert und vielleicht gerade deshalb bagatellisiert – obwohl sie für Gesellschaften an sich ebenso wie in tatsächlichen Geschichten eine unentbehrliche Rolle spielen (wir denken etwa an das widerständige Weben der Penelope in der Odyssee). Direkt vom Handwerk geht darum auch die Musikerin aus: Im titelgebenden Track Spinnerin überlagern sich Aufnahmen ihrer Mutter, die die beim Spinnen zentralen Vorgänge erklärt, mit dem Volkslied Spinn, spinn Spinnerin. Zusätzlich werden darin Harmonien und alltägliche Geräuschkulissen verflochten, die die besungene, imaginierte mit der tatsächlichen, realen Arbeit verschränken. 

Auf diese Weise gesteht die Komponistin nur selten erzählten Geschichten ihren Raum zu, und nimmt eine wertfreie Annäherung an von Arbeit und Verlust geprägte Realitäten vor, anstatt zu beschönigen oder zu idyllisieren. So auch in Irgendwann, dem Eingangslied des Albums, das Julia Lacherstorfers Großmutter gewidmet ist: Eine einzelne Violine, nicht gestrichen, sondern behutsam und doch rhythmisch betont gezupft, findet zuerst ihren Weg durch die Stille. Zwar klingen immer wieder verhalten ein paar verspielte Achtelnoten nach, taktangebend sichern Quinten und Oktaven aber einen beständigen, offenen Grundton. Dann setzt in klarer Singstimme die sprachliche Erzählung ein; die Rückschau einer Bäuerin auf ein entbehrungsreiches Leben, dem aber genauso mit Dankbarkeit begegnet wird. Und mit der ruhigen Gewissheit, dass es bald auch gut sein darf:  

Irgendwånn bin i miad, 
setz mi hin und woat, 
dass mi da Tod hoid.

Der Tod geistert in unterschiedlicher Gestalt immer wieder durch die versammelten Lieder – als erlösende Figur (wie hier in Irgendwann) als Hauptmann, der die Männer zum Wehrdienst einzieht (Bitte bitte, Herr Hauptmann) oder im abschließenden Totenlied. Auch eine der berührendsten Kompositionen des Albums, Und der See schweigt (eine Anlehnung an das Volkslied Is scho stü umman See), handelt von einem tödlichen Unglück und spürt der Geschichte einer Thumersbacher Bauernfamilie nach, die 1917 bei einer Fahrt über den Zeller See ums Leben kam. Der Tod ist auf dem Album also kein seltener Gast, sondern als neutrale Entität Teil des Alltags und selbstverständlich anwesend. 

Der Hauptakteur aber ist er nicht. Vielmehr geht es um die vielen bisher unerzählten Leben von Frauen, denen hier ruhig, poetisch, oft auch melancholisch aber niemals sentimental ihr Platz in der musikalischen Geschichtsschreibung zugestanden wird. Dabei nimmt Julia Lacherstorfer alle ihr zur Verfügung stehenden Fäden selbst in die Hand und spinnt die Erzählungen, die im überlieferten Repertoire meist nur Leerstellen sind. Dadurch ermöglicht sie ihren Hörer*innen einen ganz neuen und experimentellen Zugang zur alpenländischen Volksmusik. Zur Figuration der Spinnerin sagt sie im >>> Interview mit music austria

Die Spinnerin steht oft für ein Symbol der Entscheidungen des Schicksals. Etwa zwischen Leben und Tod. Sie spinnt den Lebensfaden und wenn der reißt, stirbt auch eine Person. Der Lebensfaden liegt quasi in ihrer Hand. Ich habe dieses Bild als ein sehr schönes empfunden. Zugleich ist Spinnerin auch ein Wort, das oft schon auch abwertend verwendet wird. Bezeichnet man eine Frau als Spinnerin, ist das oft nicht unbedingt positiv gemeint, sondern man kreidet ihr zum Beispiel an, dass sie unangepasst lebt. Was ich wirklich schön empfinde, ist, dass sich durch diese Interviews, durch meine Treffen mit diesen Frauen, durch ihre Erzählungen, durch meine Recherche, dadurch, dass ich das alles weiterverarbeitet habe und sich die Frauen einander kennengelernt haben, sich ein narratives Netz zwischen allen an diesem Projekt Beteiligten gesponnen hat. Ich finde es schön, eine Spinnerin von vielen zu sein. 

Sarah Auer

 



Spinnerin
von Julia Lacherstorfer

www.julialacherstorfer.at

 

 

 

 




 

 

 





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 


 


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Jänner 2022

 

 

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst.
S. Fischer 2020.

May I see your passport please?
Ich spreche Deutsch.
Achso. 

In mal präzise verdichteten, mal detailliert ausformulierten, mal augenfällig ambivalenten Dialogen verhandelt die deutsche Künstlerin Olivia Wenzel in ihrem Prosadebüt 1000 Serpentinen Angst schwierige Fragen der Zugehörigkeit und deren Verschränkungen mit den Bewegungen der Figuren im Raum und im Kopf. In jenen Dialogpassagen, die den Großteil des Romans speisen und die durchaus an den Charakter eines filmischen Drehbuchs erinnern, ist jedoch nicht immer klar, wer gerade mit wem spricht. Nur selten werden die Sprechenden explizit ausgewiesen oder gar namentlich bezeichnet – und auch der Realitätsgehalt des jeweiligen Gesprächs bleibt häufig offen: Als Leser*in kann man*frau sich nicht immer sicher sein, ob die wiedergegebene Unterhaltung (innerhalb der fiktionalen Realität) wirklich so stattgefunden hat, ob sie sich nur in der Gedankenwelt der Protagonistin abspielt oder ob sie eine Verschmelzung verschiedener, wiederholt erlebter Erfahrungen darstellt. 

Beständig müssen wir als Leser*innen daher den Text und uns selbst (be-)fragen: Handelt es sich bei der soeben gelesenen Passage um ein Einreiseverhör am Flughafen? Um ein Therapiegespräch zwischen Patientin und Psycholog*in? Um einen imaginierten Dialog der Protagonistin mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder? Oder doch um ein Zwie- bzw. Streitgespräch der Figur mit sich selbst bzw. ihrem Alter-Ego? Die Vielschichtigkeit, mit der Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst all diese Textformen ineinander zu verweben versteht, zeugt von ihrem großen Talent nicht nur als Dramaturgin, sondern auch als Erzählerin. 

Im Zentrum des Romans steht eine namenlose junge Schwarze Frau, die als Tochter einer deutschen Punkerin und eines angolanischen Gastarbeiters in der DDR aufwächst. Dort muss sie nicht nur mit dem latenten Rassismus ihrer Großmutter leben lernen, sondern kann sich auch im öffentlichen Raum nur eingeschränkt bewegen. Am Badesee versteckt sie sich als Jugendliche vor Neonazis, um nicht einer Gewalttat zum Opfer zu fallen; auf der Straße wird sie auf Englisch angesprochen, weil ihr Aussehen ihr Gegenüber zu der Annahme verleitet, sie könne natürlich nicht „von hier“ sein. 

Jene Zugehörigkeit, die ihr in Deutschland während ihrer Kindheit und Jugendzeit verwehrt wird, kann die Ich-Erzählerin erst als Erwachsene empfinden, als sie in die USA (wo paradoxerweise gerade Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird) reist. Erstmals wird sie dort als Deutsche wahrgenommen – und nicht mehr auf ihre Hautfarbe als Marker ihrer vermeintlichen Andersheit reduziert. In einer Welt hingegen, in der Deutschsein immer noch weitgehend mit Weißsein assoziiert wird und in der diese Verbindung oft unhinterfragt bleibt und dadurch zur Norm(alität) wird, kann sie sich nie ganz von dem Gefühl des Fremdseins und von ihren Angstzuständen – die sie nicht erst seit dem Selbstmord ihres Bruders verfolgen – befreien. 

Es gibt jetzt Angst, zu jeder Zeit, der Psychiater kann sie mir nicht nehmen. Wie auch, sie ist ungreifbar.

Um jenes Trauma aufzuarbeiten, das familiärer, institutioneller und systemischer Rassismus in ihr hinterlassen haben, dafür wurden nicht einmal die Psychotherapeut*innen in Deutschland ausgebildet. Und so schlägt sich die Protagonistin zu weiten Strecken alleine durch ihren Alltag, denn auch ihre Eltern sind beide abwesend – der Kontakt zu ihrer Mutter ist so gut wie abgebrochen, der wohlhabende Vater schickt immerhin Geld aus Angola. Zum Glück gibt es da noch zwei Freund*innen, die ihr zur Seite stehen. 

WO BIST DU JETZT? 
Irgendwo im Flugzeug.
Excuse me, dürfte ich mal bitte Ihren Boardingpass sehen?
Ich habe mich umgesetzt, also ich sitze eigentlich da hinten, aber es war so eng.
Das ist leider nicht erlaubt.
Aber die ganze Reihe ist frei. Oder, ach so, weil hier der Notausstieg ist?
Der Sitzplatz XL kostet 83 Dollar extra. 
Weil hier mehr Platz ist? Aber die ganzen anderen Sitze sind viel zu klein für mich, ich kann da mit den Beinen nicht mal gerade sitzen.
Tut mir leid, Sie müssen jetzt bitte zurück an Ihren Platz gehen. 
Ja, okay.
WO IST DEIN PLATZ? 

WO IST DEIN PLATZ? 

HAST DU EINEN KOMPASS DABEI? 
Wozu? 
HAST DU DAS GEFÜHL, DEIN LEBEN HAT EIN ZENTRUM?
Vielleicht.
HAST DU DAS GEFÜHL, DEIN LEBEN NÄHERT SICH EINEM ZIEL?
Nein.
WER SIND DEINE NACHBARN?
Meine Nachbarn! 
WO BIST DU GEMELDET?
In Berlin.
WO KOMMST DU HER?
Ich komme –
WO KOMMST DU HER?
Ich komme –
WO KOMMST DU HER?
Ich komme –

Es ist die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer Positionierung sowie mit ihren Bewegungen im Raum bzw. in der Gesellschaft, ihre Auseinandersetzung mit ihren Begegnungen mit ihrer Umwelt und mit sich selbst, aus der sich das dialogische Gestaltungsprinzip Romans entfaltet: Mal speisen sich die Fragen, die das namenlose Ich an das namenlose Du stellt, aus Neugier, mal wirken sie provokant, manchmal sogar übergriffig. Geantwortet wird nicht immer gewissenhaft, sondern immer wieder ausweichend, mit Gegenfragen, oft drehen wir uns im Kreis. Unterbrochen werden die Dialogpassagen regelmäßig von fragmentarischen Erinnerungsstücken, in denen wir gemeinsam mit der Protagonistin an jenen Bahnsteig zurückkehren, an dem sich ihr Bruder das Leben genommen hat. 

Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnsteig, in irgendeiner Stadt. Ein vereinzelter, industrieller Klotz, trotzdem unscheinbar. Eine Maschine, ein rostfreier, glänzender, quadratischer Koloss. Warum steht er allein, wer hat ihn erfunden? 

Aber nicht nur (Grenz-)Orte des Reisens spielen in Olivia Wenzels Roman eine zentrale Rolle, auch die (durch kulturelle und nationale Zugehörigkeiten bestimmten) Bedingungen und Möglichkeiten des Reisens werden darin kritisch be- und hinterfragt. 

KANN ICH MICH AUSWEISEN?
Du kannst überall hin und andere Menschen nirgends, das ist für dich so selbstverständlich, wie ins Theater zu gehen.
MANCHMAL HALTE ICH DIESES PRIVILEG NICHT AUS. 
Und manchmal genießt du es bedenkenlos.
ICH WEISS.
In dieser Hinsicht bist du weiß.
DANKE FÜR DEN HINWEIS. 
Wegen deines Ausweises.
SCHON KLAR.

In ihrem Roman 1000 Serpentinen Angst entwirft Olivia Wenzel eine literarisch beeindruckende, bewegende und bewegte Textur, deren durchdachte Komposition eindringlich und bestimmt, humorvoll und poetisch mehr Fragen als Antworten aufwirft – und dennoch nie die Hoffnung aufgibt.



Claudia Sackl

 



1000 Serpentinen Angst
von Olivia Wenzel

 

 

 

 




 

 

 





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 


 

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Die Lese-Tipps der vergangenen Jahre finden Sie >>> hier.

 

 

 

 

 

 

 

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