Dezember 2021 |
||
Adelheid Popps Jugend einer Arbeiterin gelesen von: Mirelle Ngosso, Barbara Haas, Laura Melina Berling, Anrea Arezina, Viktoria Spielmann und Beatrice Frasl. Die sozialdemokratische Aktivistin und Frauenrechtlerin Adelheid Popp (1869–1939) ist zweifelsfrei eine der bemerkenswertesten Figuren der österreichischen Politikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. 1919 zog sie gemeinsam mit sieben weiteren Frauen erstmals ins österreichische Parlament ein, an dessen Geschäften sich bis dato nur Männer beteiligen durften. Über Parteigrenzen hinweg versuchte sie dort mit anderen Pionierinnen wie Hildegard Burjan (einer Abgeordneten der Christlichsozialen Partei, heute vor allem bekannt als Gründerin der Caritas Socialis) die Rechtslage und Lebensrealitäten von Frauen aller Gesellschaftsschichten zu verbessern. Als erste weibliche Rednerin überhaupt sprach sie am 4. März desselben Jahres vor den Abgeordneten und forderte dabei – freilich unter großem Protest einiger Anwesender – die Abschaffung des Adels und all seiner Privilegien. Zuerst anonym veröffentlichte Adelheid Popp 1909 einen autobiografischen Text, der später unter dem Titel Jugend einer Arbeiterin neu aufgelegt werden sollte. Ihre Aufzeichnungen sind eine glühende Streitschrift für die Sozialdemokratie, vor allem aber auch ein beeindruckendes Zeitdokument, das eindringlich vom Leben in den Armenvierteln Wiens um die Jahrhundertwende und von der Entwicklung der österreichischen Arbeiter*innenbewegung erzählt. Viele der zentralen Anliegen Adelheid Popps müssen noch immer kontinuierlich mühsam erkämpft werden: Forderungen nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung sowie der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit bestimmen gesellschaftspolitische Diskurse bis heute. 2021 haben die beiden Podcasterinnen Sabrina Peer und Stephanie de la Barra dieser Aktualität anlässlich des Internationalen Frauenkampftags ihren Tribut gezollt. Für ihr gemeinsames Projekt Sagenhaft – Gute Nacht Geschichten für Erwachsene baten sie sechs Politikerinnen und feministische Aktivistinnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, Jugend einer Arbeiterin als Podcast-Episoden neu einzulesen. Aus dieser neu geknüpften Verbindung zwischen den Aufzeichnungen einer Pionierin der österreichischen Frauen- und Arbeiter*innenbewegung und den Stimmen von sechs Frauen, die deren Erbe sozusagen in die Gegenwart tragen, ergibt sich eine ganz eigene erzählerische Kraft. Den Beginn macht beispielsweise Mireille Ngosso: Ärztin und die erste afroösterreichische Politikerin, die in Österreich ein gewähltes Amt bekleidet. Die letzte der sechs Episoden liest hingegen Beatrice Frasl ein: Kulturwissenschaftlerin, Aktivistin und ihrerseits feministische Podcasterin. Der Text selbst erzählt von Adelheid Popps Kindheit und Jugend in den Elendsvierteln und Fabriken Wiens. Der Alltag ihrer aus Böhmen eingewanderten Familie ist von Armut und harter Arbeit geprägt, der Vater ist gewalttätig, die Mutter immer wieder über lange Zeit abwesend. Schon die Kinder müssen arbeiten, um Geld zu verdienen, eine Ausbildung ist nicht vorgesehen: Drei Jahre Schule waren nach Ansicht meiner Eltern genug, und wer bis zum zehnten Jahre nichts lernt, lernt später auch nichts, war eine von ihnen oft getane Äußerung. Adelheid Popp übernimmt schlecht bezahlte Stellen als Dienstmädchen und Fabriksarbeiterin. Wenn sie kann, übt sie sich im Lesen, liest Unterhaltungsromane, Klassiker und so oft es geht die Zeitung. Aus nächster Nähe erlebt sie die Formierung der aufstrebenden Arbeiter*innenbewegung, ihre Brüder nehmen sie mit zu Versammlungen der Sozialdemokratischen Partei. Dort hört sie Männer unwissend die Lage der Frauen in den Fabriken beurteilen und hält – um dem ihre eigenen Erfahrungen entgegenzusetzen – ihre erste öffentliche Rede. Zurück bekommt sie Begeisterung, Applaus und die Bitte, ihren Vortrag doch auch als Artikel für ein Fachblatt aufzuschreiben: Das war nun freilich eine böse Sache. Ich hatte ja nur drei Jahre die Schule besucht, von Orthografie und Grammatik hatte ich keine Ahnung und meine Schrift war die eines Kindes, da ich ja nie Gelegenheit gehabt hatte, sie zu üben. Doch versprach ich, mich zu bemühen, den Artikel zustande zu bringen. Ausgehend von diesem rhetorischen Talent als Rednerin wird Adelheid Popp immer mehr zu einer Leitfigur der österreichischen Sozialdemokratie. Sie engagiert sich in der Partei, schreibt Artikel, wird Vorreiterin im Kampf für Frauenrechte. Ihren Antrieb findet sie dabei stets in der Überzeugung, dass Veränderung notwendig und möglich ist: Das Ziel ist ungemein schön, es leuchtet so verheißend, dass nichts so schwer sein kann, um nicht doch die Kraft zu finden, es zu überwinden. Wenn es mir gelingen wird, in diesem Sinne mit meiner bescheidenen Arbeit zu wirken, dann habe ich mein Ziel erreicht. Adelheid PoppsJugend einer Arbeiterin ist das autobiografische Zeugnis einer Politikerin, die maßgeblich dazu beigetragen hat, Arbeiter*innen und Frauen in Österreich neue Räume zu erstreiten. Die von Sagenhaft veröffentlichte Podcast-Version ermöglicht noch einmal einen neuen Zugang zu diesem zeithistorischen Dokument und zieht eine leise Linie von den Aktivist*innen der Vergangenheit zu jenen der Gegenwart.
Der Podcast Sagenhaft – Gute Nacht Geschichten für Erwachsene ist auf allen gängigen Podcast-Plattformen oder auf der Und für alle, die lieber dem haptischen Buch treu bleiben möchten: 2019 ist Jugend einer Arbeiterin im Picus Verlag mit einem Vorwort von Sybille Hamann neu aufgelegt worden. |
||
______________________________November 2021 |
||
Byung-Chul Han: Lob der Erde. Eine Reise in den Garten. Eines Tage spürte ich eine tiefe Sehnsucht, ja ein akutes Bedürfnis, der Erde nahe zu sein. So habe ich den Entschluss gefasst, tagtäglich zu gärtnern.
Sarah Auer
Ein früheres gemeinsames Projekt der Künstlerin Isabella Gressler und Byung-Chul Hans ist übrigens der 2015 erschienene Dokumentarfilm Müdigkeitsgesellschaft: Byung-Chul Han in Seoul / Berlin, der >>> hier in voller Länge angesehen werden kann. |
||
______________________________Oktober 2021 |
||
Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter. Eine gefinkelte Irreführung des Buchs als Medium ist seine vermeintliche Abgeschlossenheit: Ein Titel, eine Genrebezeichnung, zwei Buchdeckel. Dazwischen ein in sich stimmiger Text, auserzählt von der ersten bis zur letzten Seite. Eine Geschichte und alles, was zu ihr zu sagen ist. Dass das Erzählen aber mitunter weniger stringent funktioniert, dass Geschichten eben auch oft offen bleiben (müssen), an diese Erkenntnis führt Alois Hotschnig seine Leser*innen im Roman Der Silberfuchs meiner Mutter behutsam und doch radikal heran. Der Autor meidet den Eindruck einer sachlichen Außenbetrachtung; die menschliche Erinnerung ordnet sich nicht rein chronologisch und die Erzählung eines Lebens muss sich konsequenterweise subjektiv gestalten. Entsprechend steht am Beginn der ersten Seite ein Nebensatz: |
||
______________________________September 2021 |
||
Madeline Miller: Ich bin Circe. Als ich geboren wurde, gab es für das, was ich war, keinen Namen. Ein Asteroid, eine Spinnenart und eine Schachvariante wurden nach ihr benannt, nicht zu vergessen der Ausdruck “jemanden bezirzen”: Circe (oder Kirke), eine Zauberin aus der griechischen Mythologie. Eine der frühesten von vielen weiteren literarischen Bearbeitungen ihrer Geschichte findet sich in Homers Odyssee, wohl einige Jahrhunderte vor Christus entstanden, die Faszination dieser vielschichtigen Frauenfigur hält aber bis heute an. Nachdem sich die US-amerikanische Autorin Madeline Miller in ihrem Romandebüt mit der Beziehung zwischen Achill und Petroklos beschäftigte (Das Lied des Achill, 2011) erzählt sie hier in der Ich-Perspektive die Geschichte von Circe – die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 und wurde wie schon Millers Erstling zum Bestseller. Von Geburt an passt Circe nirgendwo so richtig dazu: Da ihre Mutter Perse zwar dem Geschlecht der Titanen entstammt, aber eine Najade ist, ist auch ihre aus der Verbindung mit dem mächtigen Sonnengott Helios hervorgegangene Tochter in der Hierarchie der göttlichen Wesen vergleichsweise weit unten angesiedelt. Ihre Geschwister Perses und Pasiphae verspotten sie bei jeder Gelegenheit, nicht zuletzt wegen ihrer Stimme, die für die Ohren der Gött*innen unangenehm und ein wenig zu sehr nach Sterblichen klingt. Unter den Gött*innen, die als kaltherzig und gleichgültig dargestellt werden, fühlt sich Circe fehl am Platz – bis ihr die Begegnung mit einem Sterblichen zeigt, was Leben auch heißen kann. Die Liebe zu ihm führt dazu, dass sie nach Jahrhunderten des Daseins als niedrige Göttin ihre Zauberkräfte entdeckt; deren fatale Auswirkungen wiederum bedingen ihre Verbannung auf die einsame Insel Aiaia. Die vermeintliche Strafe wird für die Protagonistin zur Möglichkeit der Emanzipation: Zwar auf sich allein gestellt, aber mit göttlichem Komfort ausgestattet, hat sie alle Zeit der Welt, um mit der magischen Wirkung von allem zu experimentieren, was die Natur zu bieten hat. Doch die Sehnsucht nach Kontakt zu den Sterblichen bleibt, und als eines Tages gestrandete Seeleute an ihrer Türe um Hilfe bitten, lässt sie sie ein – womit Ereignisse ihren Lauf nehmen, die zwar eng an die Handlung der Odyssee gebunden sind, jedoch aus einer sehr modernen und vor allem feministischen Perspektive erzählt werden. Seine Grundspannung bezieht der Roman aus der Gegensätzlichkeit von Gött*innen- und Menschenwelt, die besonders dann frappant wird, wenn es um die Frage nach der Zeit geht. So erwähnt Circe bei ihrer ersten Begegnung mit einem Menschen, dass sie einmal Prometheus begegnet sei. Er meint, sie scherze, sei das doch eine Geschichte, die sich vor einem Dutzend Generationen zugetragen habe... Aus der Frage nach der Zeit und ihrer Unendlichkeit für die Gött*innen ergibt sich schließlich auch jene finale Entscheidung, die Circe am Ende der fesselnden Geschichte zu treffen hat, als sie sich ein weiteres Mal in einen Sterblichen – und damit eben auch Endlichen – verliebt. Die Fülle an Figuren aus beiden Welten, die in den vielen Jahrhunderten von Circes Göttinnenleben auftauchen und die in vielen Fällen miteinander verbunden sind, ist nicht immer einfach zu durchschauen – Leser*innen, denen eine Re-Lektüre der Odyssee zur Kontextualisierung doch etwas zu aufwändig ist, finden auf der Homepage der Autorin sehr hilfreiche Materialien dazu, etwa eine >>> Liste der Figuren oder einen besonders schön gestalteten |
||
______________________________Juli und August 2021 |
||
Sharon Dodua Otoo: Adas Raum. *bn* Claudia Sackl
Claudia Durastanti: Die Fremde. *bn* Sandra Brugger
Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. "Ein Apokalyptiker, der das Leben preist", so charakterisierte einst Marcel Reich-Ranicki den in Oberösterreich geborenen Schriftsteller Christoph Ransmayr. Mit seinem neuesten Roman bestätigt der Autor dieses Diktum. Er entwirft eine dystopische Welt im 22. Jahrhundert. Durch den Klimawandel ist viel Land zur Wüste ausgedörrt, während die Küstengegenden überflutet sind. Sauberes Wasser ist dennoch so knapp, dass deswegen Kriege geführt werden wie früher um Erdöl. Europa ist in einander bekämpfende Kleinstaaten zerfallen. Ein aggressiver Nationalismus, der alles Fremde ablehnt, ist die herrschende Ideologie. Vor diesem Hintergrund erzählt Ransmayr vom Auseinanderbrechen einer Familie. Der Ich-Erzähler ist als Wasserbauingenieur "systemrelevant". Seine privilegierte Position hilft ihm aber wenig, als er sich immer tiefer in emotionale Wirren verstrickt: Wie geht es seiner Mutter, die im Zuge einer Säuberung auf ihre adriatische Heimatinsel deportiert worden ist? Ist sein verschollener Vater, der Fallmeister vom Weißen Fluß, ein Mörder? Und was wird aus der inzestuösen Beziehung des Protagonisten zu seiner Schwester, seit diese mit einem anderen Mann zusammenlebt? *bn* Renate Langer |
||
______________________________Juni 2021 |
||
Felix Salten / Benjamin Lacombe: Bambi. Eine Geschichte aus dem Walde. Museum Wien MUSA: Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne. Ausstellungskatalog. Auch im Juni wird der Lesetipp der Literarischen Kurse gemeinsam mit der Kröte des Monats der STUBE bespielt. Doppelte Lesemepfehlung bedeutet auch Doppelrezension, die in ihrer Gesamtheit wunderbar die Geschichte von Bambi und dessen Autor Felix Salten nachzeichnet. „Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“ Bambi raste hinter ihr drein. Donner schlug von allen Seiten über Ihnen zusammen. Es war, als wäre die Erde mitten entzwei gerissen. Bambi sah nichts. Er rannte. Die angesammelte Begierde, wegzukommen aus dem Getöse, weg aus dem Dunstbereich dieser aufpeitschenden Witterung, der angesammelte Drang zur Flucht, die Sehnsucht sich zu retten, waren endlich in ihm entfesselt. Er rannte. Ihm schien, als habe er die Mutter stürzen sehen, aber er wusste nicht, ob sie wirklich gestürzt war. Er fühlte einen Schleier um die Augen. Den hatte ihm die endlich ausbrechende Angst vor dem Donner darüber geworfen. Er konnte nichts überlegen, nichts beachten, er rannte. Man kann es Paul Reitter, Literaturwissenschaftler der Ohio States University und amerikanischer Erforscher deutsch-jüdischer Kultur nicht übelnehmen, wenn er festhält: In the end, „Bambi“ may be Austrian schmaltz. Paul Reitter erkennt aber genau darin auch das Potential, „Bambi“ in den amerikanischen Kitsch einzugemeinden, wie Walt Disney das mit seinem Film aus dem Jahr 1942 getan hat. Disney greift dabei zurück auf Felix Saltens Roman aus den 1920er-Jahren, etabliert jedoch eine herzallerliebste Szenerie rund um das kleine, staksige Rehkitz, die mit Saltens literarischem Versuch, dem Seelenleben eines Waldtieres nahe zu kommen, nur mehr am Rande zu tun hat. „Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“ Verwiesen ist hier auf die Romanversion jener Szene, die mehrere Generationen von Kinobesucher*innen nachhaltig traumatisiert hat: Jene Szene, in der Bambis Mutter bei einer winterlichen Treibjagd erschossen wird und das Rehkitz alleine im Schnee zurück bleibt. Es mag erstaunen, dass Felix Salten (1989 als Siegmund Salzmann in Pest in Österreich-Ungarn geboren) selbst Jäger war, sich dabei jedoch von der gefühlsduseligen Lüge des Waldfriedens abgrenzt und das natürliche Gesetz des Tötens betont, wie Daniela Strigl in ihrem Beitrag „Bambi & Co. Saltens Tierbücher als Dokumente der Zeitgenossenschaft“ zeigt. Dennoch zählt Felix Salten durch seine Tierbücher gleichermaßen wie als Feuilletonist zu einem frühen Aktivisten des Tierschutzvereins, der sich gegen Massentierhaltung und moderne Schlachtbetriebe sowie die Gefangenschaft von Wildtieren in Menagerien oder Zirkussen ausspricht. Der 1931 erschienene Roman „Freunde aus aller Welt. Roman eines zoologischen Gartens“ gibt nachhaltig Zeugnis davon. „Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“ Der Tod von Bambis Mutter bildet eine Zäsur in jenem Roman, der zum erfolgreichsten von Felix Salten wurde. Beginnend mit 15. August 1922 erschien die „Lebensgeschichte aus dem Walde“ in Fortsetzungen in der „Neuen Freien Presse“ und in ihrer Gesamtheit noch im selben Jahr in einem Jahrbuch desselben Verlags. Die Rechte lagen aber schon beim Verlag Ullstein, der das Buch dann auch im Dezember 1922 herausbrachte – weitgehend erfolglos wie sich zeigte. Die Rechte gingen an den Autor zurück und erst mit einer Neuausgabe des Romans im Verlag Zsolnay setzte ab 1926 eine Erfolgsgeschichte ein, für die eine 1928 erschienene amerikanische Ausgabe mit der Übersetzung von Autor und Verleger Charles Whittaker Chambers und einem Vorwort des Autors John Galsworthy nicht unbedeutend gewesen sein dürfte. „Jetzt!“ sagte die Mutter. „Und nicht zu nahe hinter mir!“ Der französische Illustrator Benjamin Lacombe nutzt die Zäsur des Romans für eine buchgestalterische Mitte und breitet seine künstlerischen Mittel wortwörtlich aus: Die Warnung der Mutter wird in deutlich vergrößerter, weißer Schrift ins Dunkel der Doppelseite gesetzt, der Wald drängt vom rechten Rand bereits ins Bild. Mit dem Umblättern stehen die Betrachter*innen mitten im Dickicht. Cut Outs ermöglichen Lacombe mehrere Papierschichten übereinander zu legen, die wie ein Altarbild aufgefaltet werden können und zu einem eindrucksvollen Wald-Panorama anwachsen. In dessen Zentrum erst mit dem Aufklappen der verlorene Bambi sichtbar wird. Einmal mehr legt Benjamin Lacombe ein Meisterstück der Medienkombination dar und nutzt unterschiedliche künstlerische Zugänge, um die Lebensgeschichte aus dem Walde neu zu inszenieren. Die Textseiten sind mit Schmuckleisten gestaltet, die das Wurzelwerk des Waldes aufgreifen und in ihrem verschlungenen Wesen an mittelalterliche Buchgestaltungen erinnern. Naturszenen aus dem Wald werden darüber hinaus in farbintensiven Illustrationen aufgegriffen, die sowohl Bambi als auch andere Figuren in atmosphärisch aufgeladene Szenarien stellen und dabei naturalistische Momente mit malerischem Farbspiel und abstrahierten Perspektiven kombinieren. Unerreicht die Eule, deren Auge aus dem Schwarz einer Baumhöhle leuchtet. Die zahlreichen Bewegungs- (sprich: Action-) Szenen hingegen werden braungrauen Bildfolgen skizzenhaft aufgegriffen, sodass Saltens ja durchaus nicht unpathetischer Text eine erfreuliche Dynamisierung erfährt und damit neu zugänglich wird. Wer des Französischen mächtig ist und sich genauer für Benjamin Lacombes Arbeitsweise an „Bambi“ interessiert, erhält >>> hier einen Werkstatteinblick. Informationen zur Ausstellung „Im Schatten von Bambi“ von Wien Museum und wienbibliothek im Rathaus finden Sie >>> hier Quellen | Zur weiterführenden Lektüre: Heidi Lexe: Bambi – ein Klassiker? In: Felix Salten. Der unbekannte Bekannte. Herausgegeben von Ernst Seibert und Susanne Blumesberger. Praesens Verlag 2006. S. 97-108.
|
||
______________________________ Mai 2021
|
||
Es gilt das gesprochene Wort. Film von İlker Çatak. Es gilt das gesprochene Wort sind jene Worte, die die Standesbeamtin an Marion (Anne Ratte-Polle) und Baran (Oğulcan Arman Uslo) richtet, als sie die beiden in der Anfangsszene des gleichnamigen Films zum Jawort auffordert. Bezeichnend unbeholfen wirken die beiden, als sie schließlich zu jener entsprechende[n] zwischenmenschliche[n] Geste aufgefordert werden, die den Ehekontrakt besiegeln soll. Marion setzt zu einem Kuss auf den Mund an, Baran jedoch küsst nur ihre Wangen. Von tatsächlicher Bedeutung ist aber ohnehin nur jenes Symbol, das ihre Ehe nach außen hin sichtbar macht: Jene Ringe, die die beiden in getrennten Wohnungen lebenden Eheleute von nun an zu jeder Zeit an ihrem Finger tragen werden. In seinem neuesten Film fokussiert der deutsche Regisseur İlker Çatak die institutionellen, gesellschaftlichen und emotionalen Verwicklungen einer Scheinehe zwischen einer deutschen Pilotin und einem ca. 15 Jahre jüngeren kurdisch-türkischen Gigolo, der auf der Suche nach einem besseren Leben ist. Kennengelernt haben sich die beiden in einem türkischen Ferienort: Nach ihrer Brustkrebsdiagnose hatte sich Marion von ihrem damaligen Liebhaber Raphael (Godehard Giese) kurzerhand zu einer Fünf-Sterne-all-inclusive-Reise an den Strand überreden lassen. Trotz dieser gebührlich Drama versprechenden Ausgangssituation bleiben die ganz großen Gefühle in Es gilt das gesprochene Wort jedoch aus. Denn viel ausgesprochen wird zwischen den Figuren nicht. Das Trennungsgespräch zwischen Raphael und Marion nimmt letztere sogar zur Gänze vorweg, ohne ihr Gegenüber zu Wort kommen zu lassen: [Marion und Raphael sitzen auf dem Balkon ihres Hotels in der Türkei.] Marion: Das können wir doch abkürzen oder? Ich mein, wir wissen doch eh, wie‘s laufen wird. Raphael: Marion [atemlos]: Ich sag’: Das ist mir alles zu eng. Je mehr du von mir willst, desto weniger will ich von dir. Und dann sagst du: Ja, aber das war und ist nicht immer einfach so eine Affäre. Und dann sag’ ich: Tja, das ist dein Ding, deine Entscheidung, deine Verantwortung. Und ich sag’ auch: Nur weil ich jetzt [hustet bedeutungsschwanger] krank bin, denkst du jetzt, du musst dich um mich kümmern. Ich will das aber nicht. [...] Marion ist eine selbstbestimmte Rationalistin, die sich von niemandem etwas vorschreiben, aber auch keinen so wirklich an sie heran lässt. Auch nicht die Zuseher_innen. Über ihre tatsächlichen Beweggründe, Baran zu heiraten, wird nicht viel deutlich; körperlich kommen sich die beiden erst nach mehr als einem Jahr Ehe näher. Dass Baran der nach drei Jahren versprochene deutsche Pass lockt, ist die von Anfang an klar klar ausgesprochene Prämisse dieser unkonventionellen Beziehung. Was genau, d. h. welche biografischen, ökonomischen oder politischen Hintergründe ihn dazu antreiben, die Türkei so bedingungslos verlassen zu wollen, bleibt jedoch offen. Als Zuschauer_innen können wir lediglich vermuten, was sich hinter den Fassaden der beiden Protagonist_innen tut – und genau das macht den Film (unter anderem) so spannend. Auch in dieser Hinsicht kommt Es gilt das gesprochene Wort, dessen Drehbuch İlker Çatak und Nils Mohl gemeinsam verfasst haben, viel ruhiger daher als die erste gemeinsame Produktion der beiden Künstler, Es war einmal Indianerland. Anders als die filmischen Adaption des gleichnamigen Romans von Nils Mohl setzt Es gilt das gesprochene Wort nicht auf a-chronologische Zeitraffereffekte und Zeitsprünge, sondern erzählt seine Geschichte konsequent linear. Das Aufeinanderfolgen unterschiedlicher Zeitebenen und -formen konstituiert aber auch hier die narrative Struktur. In drei Kapitel unterteilt – Präteritum: ich war, Präsens: du bist, Futur I: wir werden sein – werden die Figuren nicht nur diachron, sondern auch relational zueinander in Beziehung gesetzt. Ob Marions und Barans Zukunft tatsächlich ein gemeinsames Wir beinhaltet, bleibt am Ende jedoch ebenfalls Interpretation der Zuseher_innen überlassen.
|
||
_______________________________ April 2021
|
||
Benedict Wells: Hard Land Die innige Zusammenarbeit zwischen STUBE und Literarische Kurse schlägt sich nicht nur im täglichen Tun nieder, sondern wird durch das nächste Leseheft im Fernkurs »ausLESEN« der Literarischen Kurse durch eine weitere Dimension ergänzt: Heidi Lexe widmet sich darin den intermedialen Dimensionen von Literatur – und dieser Anlass ist Grund genug, im April den Lesetipp und die Kröte des Monats gemeinsam zu bespielen.
|
||
_______________________________ März 2021
|
||
Meena Kandasamy: Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau Ich bin die Frau, die sich hinsetzt, um ihre Geschichte aufzuschreiben. Ich bin die Frau, die vorhat, Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich bin die Frau, die ausgestellt wird, damit die Welt sie besichtigen kann. [...] Ich bin die Frau, die eine junge Autorin ist, mit den Taschen voller schwerer Steine [...]. Ich bin die Frau, die in ihrer Ehe geschlagen wurde. Ich bin dieselbe Frau, die aus ihrer Ehe ausgebrochen ist. [...] Ich bin die Frau, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt [...]. Ich bin die Frau, die die Gesellschaft nicht bespucken oder steinigen kann, denn dieses Ich ist eine Sie, die nur aus Worten auf Papier besteht, und die Zeilen, die sie spricht, hören alle in ihrer eigenen Stimme. In der finalen Sequenz ihres zweiten Romans setzt sich die indische Autorin Meena Kandasamy mit jener Erzählfigur auseinander, mit deren Stimme sie in den vorangegangenen 240 Seiten gesprochen hat: Es ist ein Ich, das seine Geschichte einer missbräuchlichen Ehe erzählt – eine junge Autorin, die diese Geschichte für uns Leser_innen aufschreibt. Aber ist dieses Ich auch Meena Kandasamy, wie der Untertitel auf den ersten Blick vielleicht zu suggerieren scheint? Ungeachtet der Anspielung an James Joyce’ modernen Bildungsroman (die u. a. auf die literarische Verfremdung des Erlebten verweist) bejahten die ersten kritischen Stimmen zu dem auf Englisch als When I Hit You erschienenen Buch diese Frage ganz selbstverständlich und lobten die Verfasserin für ihr mutiges Sprechen darüber, was ihr persönlich widerfahren war. In der Tat ist Meena Kandasamys Text autobiografisch inspiriert, jedoch fiktionalisiert die junge Autorin darin ganz bewusst die in stilistisch variierenden Fragmenten dargelegten Geschehnisse. In einem >>> Gespräch mit der Journalistin Eliza Apperly beim internationalen literaturfestivial berlin erläutert die 1984 in der südindischen Stadt Chennai geborene Schriftstellerin, Übersetzerin und Aktivistin, wie das Schreiben über dieses Thema erst durch die fiktionale Audrucksform mögich wurde. Darüber hinaus betont sie, wie sie sich im Zuge der anfänglichen und überschwänglichen Rezeption ihres Romans dagegen wehren musste, auf ein Opfer reduziert zu werden, das häusliche Gewalt überlebt und nun eine autofiktionale Verarbeitung ihres Traumas – dieses könne, so Kandasamy, höchsten als Fußnote in ihrer Biografie bezeichnet werden – verfasst hat. In eine passive Opferrolle gedrängt zu werden, weigert sich auch die Ich-Erzählerin im Text, die sich gleich zu Beginn als Schauspielerin präsentiert, denn: Es ist einfacher, mir dieses Leben, in dem ich feststecke, als Film vorzustellen; es ist einfacher mich als Filmfigur zu denken. Zentral in ihrem Erzählen über ihre Erfahrungen ist für das sprechende Ich, die Kontrolle über die eigene Geschichte, den eigenen Körper wiederzuerlangen. Denn nicht nur der Ehemann, sondern auch die Mutter und die Medien vernachlässigen die Rolle des Täters in ihren Narrativen einer Ehe, die „nicht funktioniert“ hat. Im Buch präsentiert sich die Erzählerin als Drehbuchautorin (Jetzt, wo die Handlung klar ist, wird es Zeit für einen Dialog), als Regisseurin (Und Schnitt! [...] Ich denke über Kamerawinkel nach) und als Kamerafrau zugleich und nimmt so eine distanzierte, entfremdete Beobachterrolle gegenüber dem Geschehen ein. Abspaltung als Überlebenstechnik – so beschreibt es Deepa D. in ihrer eindringlichen Rezension, die in der deutschsprachigen Übersetzung als Nachwort abgedruckt wurde. Tatsächlich wird das namenlose Ich zunehmend ihrer Identität beraubt. Nachdem sich der links-intellektuelle Universitätsdozent, in den sich die gebildete Feministin verliebt hat, sich zunehmend als manipulativer, gewalttätiger Ehemann zu erkennen gibt, muss die junge Frau um ihr soziales, psychisches und schließlich auch physisches Überleben kämpfen. Es beginnt damit, dass er sie zwingt, ihren Facebook-Account zu deaktivieren. Dann löscht er eines Tages alle ihre Mails, Daten und Kontakte und beginnt, ihre PC- und Online-Zeiten strikt zu überwachen. Die um ihr Ansehen bangenden Eltern verharmlosen die Hilferufe ihrer Tochter und raten ihr, durchzuhalten und Toleranz zu zeigen. Selbst nachdem es zu körperlichen Übergriffen kommt, zeigt sich ihr Umfeld indifferent. Die soziale und sprachliche Isolation (das im südindischen Mangaluru verbreitete Kannada versteht die Tamilsprechende nur in Bruchstücken) gepaart mit der ökonomischen Abhängigkeit (ihr Ehemann verunmöglicht auch ihre Arbeit als Autorin) zwingt die Erzählerin, ihren aufkeimenden Widerstand in die einzige ihr noch zur Verfügung stehende Ressource zu kanalisieren: das (heimliche) Schreiben. Ihre Texte – Briefe an fiktive Liebhaber, innere Monologe über ihre Gewalterfahrungen, poetische Versuchsanordnungen über ihr Ungehorsam sowie zynische Diagnosen ihrer Lage und der Rolle der (Ehe-)Frau in Indien – löscht sie sofort nach dem Abtippen wieder. In ihrem dicht gewebten Text literarisiert Meena Kandasamy das Bewusstsein der Ich-Erzählerin und deren Erfahrungen der Erniedrigung und Misshandlung, ohne diese voyeuristisch zur Schau zu stellen. Angetrieben von der Frage Wie klarkommen mit und – vor allem – wie schreiben über tabuisierte (Ver)Gewalt(igung) in der Ehe? seziert sie komplexe gesellschaftliche Mechanismen und entwirft wortgewandte Bewältigungsstrategien, die letztlich auch zur (Selbst-)Befreiung der Protagonistin führen. Dabei schreibt sie gegen jene Ungläubigkeit an, die nicht verstehen will, wie eine emanzipierte, antizerbrechlich[e] Frau in eine solche Situation geraten kann. Ihre vielschichtigen, sorgfältig komponierten Textsequenzen, die jeweils von einem Zitat aus der Feder unterschiedlicher Autor_innen (darunter u. a. Elfriede Jelinek, Frida Kahlo, Margaret Atwood oder Sandra Cisneros) eingeleitet werden, fordern uns als Leser_innen stets aufs Neue zur kritischen Reflexion und zur genauen Auseinandersetzung mit dem Ge- und Beschriebenen heraus. Am Ende steht die Erkenntnis, dass das Ich nur sich selbst retten kann: durch das Sprechen (und Schreiben) darüber, was ihr widerfahren ist. Ich bin die Frau, die versucht hat, sich vor dem Schmerz der ersten Person Singular abzuschirmen. [...] Ich bin die Frau, die den Platz der Frau einnimmt, die es leid ist, Teil dieser Geschichte, egal in welchem Erzählstrang, zu sein – Krimi oder Drama, persönlich oder fiktiv –, weil diese Frau so hart und so lange darum gekämpft hat, sich herauszuwinden – und jetzt, wenn sie gebeten wird, darüber zu sprechen, viel lieber eine Stellvertreterin schicken möchte. Diese Geschichten zu erzählen mag eine Katharsis sein, aber für sie ist es eine zweite, noch raffiniertere Strafe. Ich bin die Frau, die an ihrer Stelle übernimmt.
|
||
_______________________________ Februar 2021
|
||
Nach ihrem erfolgreichen Roman „Die Bagage“ (2019) rollt Monika Helfer einmal mehr eine Familiengeschichte, ihre Familiengeschichte, auf. Was dabei der Realität entspricht und welche Aspekte erweitert oder abgeändert wurden, bleibt für die Lesenden aber offen. Im Zentrum steht nun aber nicht mehr die Familie ihrer Mutter; vielmehr möchte Monika Helfer mit ihrem neuen Text eine Lücke schließen, die sich durch „Die Bagage“ aufgetan hat und rückt daher das Leben ihres Vaters in den Fokus. Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre. Untertags und auch nachts denk ich an ihn, wie er da in seinem Lehnstuhl sitzt unter der Stehlampe, rundum die eigenen Kinder und fremde, zum Beispiel die vom Erdgeschoss. Ihr Ball rollt um seine Füße, unter den Stuhl, ihn schreckt es nicht. Er liest. Im Krieg verliert der Vater ein Bein, das rechte, abgefroren. Nach seiner Rückkehr fristet er sein Leben wortkarg – so wie viele Männer dieser Generation. Nüchtern und unromantisch wird vom Kennenlernen mit der Mutter erzählt – in einem Lazarett: sie Krankenschwester, er Patient – und dem Beginn der Familie, in die Monika als das zweite Kind hineingeboren wurde. Er wollte ein Buch nicht nur lesen, er wollte es besitzen. Er hat sich selten Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, aus der Stadtbibliothek oder der Arbeiterkammerbibliothek oder der Landesbibliothek oder über die Fernleihe aus der Nationalbibliothek. Er hat diese öffentlichen Anstalten oft besucht, hat hier einen Band aus dem Regal genommen, dort einen, hat darin geblättert, hat gestrichelt, daran gerochen und ein bisschen gelesen, hat sich manchmal Autor und Titel notiert und das Buch dann gekauft. Durch diese Buch-Affinität halten in die Lesebiographie ihres Vaters nicht nur Monika Helfers eigene Werke, sondern auch Klassiker wie „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ und andere Titel Einzug in den vorliegenden Text. Auch wenn der Vater nicht viel gesprochen hat, nicht über den Krieg und auch sonst nicht, gelingt es Monika Helfer, sein Leben zu portraitieren. Zusammengestückelt aus Erzählungen anderer Personen und ihren eigenen Erinnerungen. Erinnerungen an jene Zeit mit dem Vater in den Bergen und an jene Zeit ohne diesen, als er nach dem Tod der Mutter die Familie verlässt und die junge Monika mit ihren Schwestern in die beengte Wohnung ihrer Tante in der Südtiroler-Siedlung in Bregenz zieht. Später, als die Welt und vor allem unser Leben ganz anders war, fragte er mich einmal, ich war achtzehn oder jünger, was ich mir vom Leben wünsche. Ich antwortete, und das nicht, um ihm einen Gefallen zu tun, sondern weil es die Wahrheit war: »Ich wünsche mir, dass irgendwann auf einem Buchrücken mein Name steht.« Und dieser Wunsch hat sich erfüllt. |
||
_______________________________ Jänner 2021
|
||
avant 2020. Es ist (ein aufsteigender, aber dennoch) ein Countdown, der mit dem Titel des vorliegenden Comic der deutschen Zeichnerin und Cartoonistin eröffnet wird. Von 1 bis 23, und dann – so viel sei verraten – ein Neubeginn bei Nr. 24. Die Plüm vom Planeten Plümos zählen seit der Erfindung der Zahlen für ihr Leben gern. Aber auch über ihre fiktionale Welt hinaus liegt das Letzte-Tage-Zählen gerade voll im Trend: Die letzten Tage des von vielen mit großer Genugtuung (und zugleich mit großen Erwartungen für das Kommende) verabschiedeten Jahres 2020 haben wir schon hinter uns. Die letzten Tage einer (wie die erschreckenden aktuellen Ereignisse wieder einmal gezeigt haben) beschämenden Präsidentschaft auf der anderen Seite des Atlantiks befinden sich noch vor uns. Wie viele letzte Tage jeder und jede Einzelne von uns noch bis zum Erhalt jenes Serums zu zählen hat, das uns allen wieder eine gewisse Form von „normalem“ Leben ermöglichen soll, ist für die Meisten noch ungewiss. Nicht zuletzt deshalb können wir dieser Tage ein paar Momente ausgelassenen Lachens gut gebrauchen. Und mit solchen kann Katharina Greve, die bereits in ihren früheren Arbeiten „Das Hochhaus“ (2017) und „Die dicke Prinzessin Petronia“ (2019) bewiesen hat, dass sie es versteht, ihre zeitgenössischen Gesellschaftssatiren in Comicform punktgenau mit einer ordentlichen Portion Ironie und Zynismus anzureichern, in ihrem neuen Buch zur Genüge aufwarten. Aber es gibt noch einen Grund, warum die Geschichte über die sonderbaren Plüm-Wesen das Jahr 2021 eröffnen soll: Mit slapstickartiger Situationskomik, frechem Wortwitz und abstruser Phantasie erzählt Katharina Greve in „Die letzten 23 Tage der Plüm“ von den letzten dreien der sorg- und ambitionslosen ungeschlechtlichen Kopffüßlern, die sich ähnlich wie Bakterien durch Teilung vermehren (was aber so anstrengend ist, dass sie schon längst darauf verzichten) und auf ihrem kargen Planeten tagein, tagaus nicht viel mehr tun als Lübosen-Würmer zu rösten, hochprozentigen Summerling zu trinken und zu schlafen. Ihr friedvoller Alltag (manche würden ihn vielleicht auch als grotesk eintönig oder gar stumpfsinnig bezeichnen) wird jäh aus der Balance geworfen, als ein pinkfarbener Punkt am Himmel auftaucht, der den Weltuntergang anzukündigen scheint: „Schlechte Neuigkeiten, Schte, Rüm. Dieser pinke Punkt da oben kommt auf uns zu. Nach meinen Berechnungen stoßen wir in 23 Tagen mit ihm zusammen.“ Mit reduzierter, gezielt gesetzter Strichführung verleiht Katharina Greve den drei grünen Plüm ausdrucksstarke Gesichtszüge und zieht für ihre Endzeitstimmung-erzeugende entleerte Raumdarstellung nur vereinzelte Requisiten – wie zum Beispiel grüne Flaschen – heran. Denn die zweite Plüm-Regel für ausweglose Situationen lautet: So viel Summerling trinken, wie man kann. Die angekündigte dritte Plüm-Regel für ausweglose Situationen gibt es gar nicht, denn: „So ausweglos war noch nie eine Situation, dass die zwei anderen nicht gereicht hätten.“ In 24 pointierten dialogischen Kurzszenen vor immergleichem Horizont und stetig größer werdendem pinken Punkt lässt Katharina Greve die drei letzten Plüm unterschiedlichste Möglichkeiten ersinnen, wie sie einerseits den fatalen Zusammenprall mit dem pinken Punkt verhindern und andererseits ihre letzten Tage maximal auskosten können, indem sie tun, was noch kein Plüm zuvor getan hat. Aufräumen zum Beispiel, ein Kunstwerk erschaffen – oder einen vergammelten Trufonten essen und sich zum ersten Mal in der Geschichte der Plüm eine Fleischvergiftung zuziehen... Dass Schte und Rüm im Gegensatz zu dem immer verzweifelter werdenden Pla nicht gerade die Hellsten sind, ist dabei nicht unbedingt von Vorteil. Sowohl ihr selbstgebasteltes Umleitungsschild als auch ihre Mini-Rampe, mit der sie sich zum pinken Punkt hinaufschießen möchten, um mit ihm zu reden („Rüm meint, man kann mit jedem über alles reden“), sind selbst innerhalb der nicht immer ganz nachvollziehbaren Logik der Plüm zum Scheitern verurteilt. Regelmäßig unterbrochen werden die absurden, aber umso amüsanteren Versuche, den bevorstehenden Weltuntergang abzuwenden oder zumindest erträglicher zu machen, von jenen pseudo-wissenschaftlichen Einschüben (ebenfalls 24 an der Zahl), die den Leser_innen in historiografischem Duktus Wissenswertes über die Plüm vermitteln und damit auf erheiternde und aufschlussreiche Weise zu Greves kuriosem Worldbuilding beitragen: Seit jeher halten die Plüm den Schlaf für den Urzustand jedes Seins, da man schlafend niemandem willentlich Schaden zufügt. Alle anderen Aktionen – wie etwa die Ernährung – dienen nur dazu, den Schlaf zu sichern. Am besten und tiefsten schlafen sie übrigens seltsamerweise auf violetten Kissen. Warum, wurde nie geklärt, da selbst die wissbegierigsten Plüm sofort eindösten, sobald sie über violette Kissen nachdachten. Dass Katharina Greve ein Faible für besondere Buchformate hat, hat sie schon in ihrer auf einem genialen >>>Web-Comic-Bauprojekt basierenden Graphic Novel „Das Hochhaus“ gezeigt, hinter dessen außergewöhnlich schmalen, hochformatigen Buchdeckeln sich ein Stockwerk nach dem anderen nach oben schraubt und Blicke ins Innere der Apartments und des Alltagslebens der Bewohner_innen eröffnet. „Die letzten 23 Tage der Plüm“ hingegen erstreckt sich entlang der horizontalen Achse in die Länge und basiert auf einer gedruckten Comicserie, die Greve für die Tageszeitung „taz“ verfasst und für den vorliegenden Band (dessen Ende von den „taz“-Leser_innen und -Redakteur_innen maßgeblich beeinflusst wurde) um einige Episoden erweitert und neu koloriert hat. Alles andere als seriös, aber deshalb nicht weniger präzise verhandelt sie darin die großen Fragen, an denen sich Philosoph_innen seit Jahrhunderten abarbeiten. Mithilfe parodistischer Überzeichnung und grafischem Minimalismus entwirft sie eine einzigartige Endzeitwelt, die Leser_innen unterschiedlichen Alters zum Schmunzeln bringt.
Claudia Sackl
|
_______________________________
Die Lese-Tipps der vergangenen Jahre finden Sie >>> hier.