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Posy Simmonds: Cassandra Darke Schnee fällt am 21. Dezember 2017 auf die weihnachtlich geschmückten Einkaufsstraßen Londons. Mitten in dem geschäftigen Treiben steht eine grimmig blickende dicke alte Frau, fragwürdig gekleidet mit russischer Pelzmütze. Unweigerlich erinnert die Szene an Charles Dickens Weihnachtsgeschichte und auch der raue und abgeklärte Ton der alten und dicken Lady, wie sie sich selbst bezeichnet, bestätigt nach wenigen Worten, dass wir es in der neuen Graphic Novel von Posy Simmonds mit einer zeitgenössischen Version von Ebenezer Scrooge zu tun haben: Normalerweise hätte ich im The Wolseley bei Egg Benedict und Frucht-Scones abgewartet. Aber ich brauchte frische Luft. Ich rief meinen Fahrer an, dass ich mich allein auf den Heimweg machen würde und ließ mich stundenlang durch die Horde verblödeter Weihnachtsshopper treiben. (S. 7) Posy Simmonds gilt als Grand Dame der Graphic Novel. Mit 74 Jahren ist sie nicht die junge Künstlerin, die hinter Graphic Novels vielleicht oftmals vermutet wird. Und auch mit ihrer Interpretation des Genres überrascht die Cartoonistin. Ihre Motive, die voller literarischer Zitate stecken und ihr Ausdruck in den Textpassagen, die ungewöhnlich lang für Graphic Novels sind, knüpfen eng an die Tradition des klassischen britischen Gesellschaftsromans an und haben ihr unter Kenner*innen den Ruf einer modernen Jane Austen eingebracht. Cassandra Darke ist ein gezeichneter Kriminalroman und Gesellschaftsroman mit einer ungewöhnlichen Heldin (oder eigentlich Anti-Heldin) als Ich-Erzählerin. Er handelt von einer egoistischen und kriminellen Kunsthändlerin. Seit ihre „Machenschaften“ (S. 7) aufgeflogen sind und sie pleite ist, muss sie es sich ohne die Annehmlichkeiten der Mittelschicht in ihrem Stadthaus in Chelsea einrichten. Ihr sprechender Name erinnert an die Seherin Kassandra, die das Unheil vorhersehen kann. Diese Anspielung wird auch gleich zu Beginn des Buches aufgegriffen: Ich verdrückte die Macarons gleich auf der Straße. Jede Schokolade-Karamell-Dosis hielt nur wenige Sekunden vor, dann wurde ich wieder nervös. Ich rechnete fest damit, dass irgendetwas passiere würde. (S. 6) „Darke“ könnte als Anspielung auf die dunklen Geschäfte, die Cassandra Dark in ihrer Galerie betreibt, interpretiert werden. Oder als Hinweis darauf, dass diese Graphic Novel auch ein Kriminalroman ist, der von den düsteren Momenten des Lebens erzählt. Alles dreht sich dabei um die Leiche einer unbekannten jungen Frau, die im Wald von Wrysley gefunden wurde. Cassandra Darke vermutet einen Zusammenhang zwischen dem Mord und den Ereignissen aus dem Jahr 2016, als ihre Nichte Nicki bei ihr wohnte. Die junge Performancekünstlerin, die von ihrer grummeligen Tante nicht geschätzt wird, sondern nur ausgenutzt wird, beschäftigt sich mit der Kritik am Patriarchat und dem Sexismus der alten Meister. Ende November stand für mich fest, dass Nicki ausziehen musste. Sie war schlampig und unaufmerksam geworden und gähnte die ganze Zeit. Ihre selbstgerechte Art war zum Kotzen – wie sie in ihrer Kunst Gott weiß wie moralisch tat. (Wenn man das überhaupt Kunst nennen konnte, da es weder Präzision noch Können erforderte, keinen ästhetischen Wert besaß und nach bourgeoisen Schuldgefühlen stank.) Weihnachten schien mir als idealer Zeitpunkt, ihr meinen Entschluss zu verkünden. (S. 54) Und dann entdeckt Cassandra eine Pistole im Wäschekorb… Wie sich der Leichenfund dazu verhält, wird nach und nach in Sequenzen und mit Zeitsprüngen aufgerollt. Die verschiedenen Handlungsstränge des Buches laufen dabei ganz leichtfüßig aufeinander zu. Das sequenzielle Erzählen in Panels, den charakteristischen Einzelbildern von Graphic Novel Comic, wird dabei immer wieder durch längere Fließtexte durchbrochen, wodurch auch Leser*innen, die sich in diesem Genre noch nicht mit Leichtigkeit bewegen, sehr einfach in die spannende Geschichte hineinfinden. Die vielen Details, die Posy Simmonds in ihre Zeichnungen einarbeitet, laden zudem zum Versinken ein. Bestechend ist schließlich der bissige Humor, mit dem der Krimi letztlich in die ganz und gar nicht witzigen Bereiche von Ausbeutung und Mädchenhandel führt. Und ich bin merkwürdig glücklich, während ich in die Winterlandschaft hinausschaue und die trächtigen Schafe zähle. (S. 94)
Jana Sommeregger |
Cassandra Darke
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November 2019
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Meghan Cox Gurdon: Die verzauberte Stunde. Warum Vorlesen glücklich macht Im Zentrum des ersten Lesehefts von Jana Sommeregger in unserem >>> Fernkurs für Literatur einLESEN steht das Lesen hinsichtlich seiner Formen und Funktionen. Unsere erste Lektüre, Die Sehnsucht des Vorlesers von Jean-Paul Didierlaurent, dreht sich um den Protagonisten Guylain, der durch Vorlesen in öffentlichen Räumen andere Menschen begeistert. Dem Phänomen des Vorlesens widmet sich auch die US-amerikanische Autorin, Kritikerin und ehemalige Auslandskorrespondentin in ihrem Buch Die verzauberte Stunde. Warum Vorlesen glücklich macht: Lesen ist wichtig. Diese drei Dinge sind für Menschen, die sich gern und ausgiebig mit Literatur beschäftigten (sei es im privaten und/oder im beruflichen Bereich), keineswegs neu. Weniger bekannt sind vielleicht die wissenschaftlichen Studien, die es über das Lesen in Gemeinschaft gibt: das Vorlesen. Lies mir vor! Unter diesem Motto leitet Meghan Cox Gurdon das letzte Kapitel ein, in dem sie die Grundaussagen ihres Buchs zusammenfasst und hilfreiche Tipps gibt, wie eine entspannte, gemütliche Vorlese-Situation geschaffen werden kann. Die morgendliche Zugfahrt zum Arbeitsplatz – wo Guylain Vignolles in Die Sehnsucht des Vorlesers täglich vorliest – ist wahrscheinlich nicht das erste, was einem dazu in den Sinn kommt. In Die verzauberte Stunde wird jedoch auch herausgearbeitet, dass zu jedem Zeitpunkt und nahezu an jedem Ort Platz fürs Vorlesen sein kann (und soll).
Alexandra Hofer
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Die verzauberte Stunde
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Oktober 2019
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Barbara Frischmuth, Ruth Klüger, Marlene Streeruwitz: Lesen. Drei Annäherungen Parallel zum Beginn unseres neuen >>> Fernkurs für Literatur tauchen wir auch mit unserem aktuellen Lese-Tipp anhand von Essays von Marlene Streeruwitz, Barbara Frischmuth und Ruth Klüger in die vielseitigen Aspekte und Funktionen jener Kulturtechnik ein, die auch im ersten Fernkurs-Modul im Zentrum steht. Im Rahmen des zehnjährigen Jubiläums des Literaturhaus Graz verfassten die österreichischen Autorinnen drei Essays über ihre persönlichen Leseerfahrungen, die in einem schmalen, aber quadratischen Büchlein Lesen. Drei Annäherungen 2013 mit einem Nachwort von Gerhard Melzer, dem damaligen Leiter des Literaturhauses, veröffentlicht wurden. Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt – oder es in die Ecke geschleudert – und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten Konfiguration des Textes etwas in ihr oder ihm getroffen hat. Ein solch intensives, fast schockhaftes Lektüreerlebnis beschreibt Marlene Streeruwitz auch in ihrem Essay „Leseerfahrungen“, in dem sie eine fiktive Leserin (oder ein literarischer Alter-Ego?) den gelesenen Schmerz als Erinnerung in sich selbst spüren (S. 12) lässt. Ganz unvermittelt trifft sie dieser Schmerz. In dem Schanigarten eines Cafés sitzend. Sich an jene Buchstelle erinnernd, die einen so tiefgreifenden Eindruck bei ihr hinterlassen hat: Da war es gewesen. In diesem Augenblick. […] In ihrer Vorstellung, die zunehmend austauschbar wird mit dem tatsächlich Gefühlten. Wenn Körperliches und Imaginiertes ineinander verschwimmen, die Grenzen zwischen dem Faktualen und dem Fiktionalen durchlässig werden, wenn jener intersubjektive Schmerz doch und zur gleichen Zeit […] in dem Buch gefangen und weggehalten. Weggesperrt. Ihr vorenthalten und ihr erlassen. Im Buch vibrierend und zur jederzeitigen Aufrufung (S. 13). Das bedeutsame Identifikationspotential von Literatur, die im besten Fall nicht nur Empathie herzustellen weiß, hebt auch Jana Sommeregger in ihrem >>> Horizonte-Heft zum Lesen hervor, das am Anfang unseres Fernkurses einLESEN steht. Ebenso erwähnt sie Ruth Klüger, jene Autorin jüdischer Herkunft, für die (das Rezitieren und die klangvolle, gebundene Sprache von) Lyrik zur Überlebensstrategie wurde, die ihr half, sich von der immer bedruckender werdenden Umwelt zu distanzieren (S. 42). In ihren zwei Jahren in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt hat Ruth Klüger, so die passionierte Leserin wie Verfasserin von Gedichten in einem Gespräch mit Bettina Baumann (DW), nur deshalb ihren Verstand nicht verloren, weil es zum einen der Zufall wollte, und weil sie zum anderen Reime gemacht hat: Man fragte sich, worin denn das Tröstliche an so einem Aufsagen von Gereimtem eigentlich besteht, schreibt sie in ihrem Essay „Lyrik lesen“. Mir scheint indessen, dass der Inhalt der Verse erst in zweiter Linie von Bedeutung war und dass uns in erster Linie die Form selbst, die gebundene Sprache, eine Stütze gab. Oder vielleicht ist auch diese schlichte Deutung schon zu hoch gegriffen, und man sollte zu allererst feststellen, dass Verse, indem sie die Zeit einteilen, im wörtlichen Sinne ein Zeitvertreib sind. (S. 43f.) Von besonderer Bedeutung und „Brauchbarkeit“ erwiesen sich für Ruth Klüger Friedrich Schillers Balladen, die sie als Anfang ihrer literarischen Bildung bezeichnet: Es ist (oder war) etwas an diesen Versen, das es leicht machte, sich ihnen anzuvertrauen. (S. 42) Vom Sich-Vertraut-Machen mit den befremdlichen Wörtern und Buchstaben, die auf abstrakte, ja willkürliche Weise unsere Laute verbildlichen, erzählt auch Barbara Frischmuth in ihrem Beitrag „Hänschen klein“. Nein, ich gehörte nicht zu den Kindern, die schon im Vorschulalter – wie heißt es so schön – sinnerfassend lesen konnten. […] Ein Wort stach mir ins Auge, dessen Buchstaben mir vertraut waren, das aber keinen Sinn ergab: Hän/schen. Ich wusste, dass man s c h wie sch aussprach, was aber sollte Hän schen bedeuten? Und plötzlich traf es mich wie der Einschlag eines Meteoriten (S. 28) Die Unbeständigkeit der Bedeutungen von Wörtern und Buchstabenkombinationen wie Hän/schen – die nicht nur in der unterschiedlichen Lesart liegen, sondern auch je nach außersprachlichem Kontext und sprachlichem Zusammenhang variieren – begriff die Schriftstellerin schon als Kind nicht als Entmutigung, sondern als Herausforderung, sich mit den ständig oszillierenden Wortbedeutungen auseinanderzusetzen und sie in ungewöhnliche Zusammenhänge zu stellen. In anderen Worten: Literatur zu lesen bzw. zu schreiben. In dieser fand sie sich – war die erste Erkenntnisschwelle der Differenz zwischen Hän/schen und Häns/chen erst einmal bewältigt – ohne große Mühsal zurecht: Da die Welt in einem Buch viel schneller zu erfassen ist denn die Welt als Welt, lernte ich die Welt, von der in dem Buch die Rede war, rascher als eine der möglichen kennen, die jeweils aus dem bestanden, was ihnen zwischen zwei Buchdeckeln zugestanden wurde. […] Die Welt um mich herum veränderte sich schneller und nachdrücklicher als die, die ich im jeweiligen Buch vorfand, so dass mir die Welt in den Büchern verlässlicher und vertrauenswürdiger erschien als die wirkliche Welt. (S. 28f.) Wie Marlene Streeruwitz in ihren Tübinger Poetikvorlesungen hervorhebt, ist das Produzieren und Rezipieren von literarischen Texten jedoch nicht nur das Eintauchen in andere Welten: Literarisches Schreiben und Lesen sind, wie alle Prozesse von Sprachfindung, mögliche Formen des In-sich-Hineinblickens. Sind Schnitte in die sichtbare Oberfläche, um tiefere Schichten freizulegen. Sind Forschungsreisen ins Verborgene. Verhüllte. Mitteilungen über die Geheimnisse und das Verbotene. Sind Sprachen, die das Sprechen der Selbstbefragung möglich machen. Und sie so zur Erscheinung bringen. (S. 9)
Claudia Sackl
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Drei Annäherungen an das Lesen
von Barbara Frischmuth, Ruth Klüger und Marlene Streeruwitz.
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September 2019
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Susan Kreller: In einem Monat startet der neue >>> Fernkurs für Literatur, der sich gleich zu Anfang mit dem Lesen als Kulturtechnik auseinandersetzt. Auch in Susan Krellers Roman Pirasol erhält das Lesen und (das Lesen, Erkennen und Wiedergeben) literarische(r) Texte besondere Bedeutung. Pirasol ist Schauplatz vieler Kriege, einem Ehekrieg mit einseitiger Bewaffnung, einem Vater-Sohn-Krieg mit ungleichlangen Schwertern, dem Rachefeldzug einer Vertriebenen und einem Kampf einer Frau ein Leben lang mit sich selbst. (literaturblatt.ch) Es ist ein weiterer (historischer) Krieg, der ebenfalls eine zentrale Rolle in der Biografie der Protagonistin einnimmt, wenn diese erleben muss, wie ihr politisch und ideologisch engagierter Vater in das Konzentrationslager Oranienburg bei Berlin gesperrt wird. Wie ihre Mutter aus den zerbombten Straßen nach einem Einkauf nicht mehr zurückkommt. Und wie ihr Vater nach Kriegsende als ein anderer heimkehrt, völlig erstarrt von dem Erlebten; als einst sprachgewaltige Vertrauensperson, die nun kein Wort mehr verliert. Auf drei ineinander verwobenen Zeitebenen erzählt Susan Kreller auf verdichtete und doch leichtfüßige Weise von düsteren, aber stets auch hoffnungsvollen Momenten des Lebens einer Frau, die nicht nur in ihrem sozialen Umfeld vereinsamt, sondern sich auch von sich selbst entfremdet, wenn sie in ihrem eigenen Leben immer mehr zurückgedrängt wird. Der schützenden Obhut ihrer Eltern entzogen, ist sie bereits als 14-jähriges Mädchen im kriegszerstörten Berlin ständigem Hunger, Kälte und Angst ausgeliefert. Die sexuellen Bedrängungen des übergriffigen Jacken-Karl – einem Mithäftling ihres Vaters, bei dem sie nach dessen Tod unterkommt –, die tyrannischen Auswüchse ihres übermächtigen Ehemannes, dessen psychischen Terror und Gewaltausbrüche gegenüber ihrem gemeinsamen Sohn, sowie schließlich die feindliche Übernahme ihres Hauses durch die nach Vergeltung sinnende Thea – all das erduldet Gwendolin still. Dabei verliert sie nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihre eigene Selbstbestimmtheit. Stets leuchtet vor dem Hintergrund dieser zerstörten Familienverhältnisse aber Gwendolins heile, vielleicht auch idealisierte Kindheit vor dem Krieg, die ihr – als noch intakter Rückzugsraum – Zuflucht vor den tristen geschichtsträchtigen Realitäten bietet. Die Schutzfunktion dieses glücklichen Kindseins wird durch die enge Verbindung zum Vater auf das Medium des Buches, Literatur und das literarische, intertextuelle Sprechen im Allgemeinen übertragen. In der Bibliothek des Vaters findet Gwedolin die ihr entrissene Bezugsperson wieder, die in dem ewigen Warten auf den Vater in der einsamen Wohnung wieder nahbar wird. In seiner Abwesenheit liest Gwendolin seine Bücher in alphabetischer Reihenfolge, deren Ordnung auch den vorliegenden Roman strukturiert: Der Vater würde es kaum wagen, fortzubleiben, nicht nach all den Büchern, die sie schon für ihn gelesen hatte. Obwohl sie erst bei B war. Aus dem Konzentrationslager schreibt der Vater scheinbar bedeutungsleere Briefe an seine Familie, deren Chiffren nur die Tochter zu decodieren vermag. Mithilfe verschlüsselter Zitate aus seinen Büchern legt er darin sein Innerstes offen. Aber nicht nur in dieser Hinsicht wird literarische Sprache in Susan Krellers Roman zur Überlebens-, Widerstands- und Befreiungsstrategie. Als Gwendolin knapp 70 Jahre später schließlich – wohl zum wiederholten Male – bei Z ankommt, ist sie auch wieder bei sich selbst angelangt und kann ihre Stimme wiederfinden: Sie nimmt zwei Bücher von der Leiterstufe und wirft sie mit aller Kraft nach unten auf das Parkett, lässt sie Thea ins Wort fallen: Susan Krellers Roman beeindruckt nicht nur durch die feine Balance zwischen seiner unheimlichen erzählerischen und bildsprachlichen Dichte und seiner dennoch feingliedrigen Struktur, die Motive, Erzählstränge und Figuren zusammenhält, sondern auch durch die präzise und zugleich ungemein poetische Sprache, mit der die Autorin jene Ungeheuerlichkeiten literarisiert, die Menschen einander innerhalb gesellschaftlicher wie familiärer Gefüge antun. Die ambivalent gezeichneten Charaktere werden dabei stets gebrochen, wenn einstige Retter*innen zu neuerlichen Unterdrücker*innen werden und sich Gwedolin durch die von ihr selbst auferlegten Fesseln ebenso stark einschränkt wie fremdbestimmte das tun. Die psychologischen (Un-)Tiefen ihrer Figuren weiß die mehrfach preisgekrönte Autorin mit unverblümten Worten zu erkunden und dabei die berührende, aber an keiner Stelle kitschige Emanzipation einer Protagonistin nachzuzeichnen, die sich erst aus dem Gefängnis ihrer eigenen Stille (Susan Kreller in literaturblatt.ch) befreien muss, um wieder ein ganze[r] Mensch (Pirasol S. 278) sein zu können.
Claudia Sackl |
Pirasol von Susan Kreller (geb. 1977 in Plauen, Deutschland)
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Sommer 2019
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Cornelius Hell: Lesen… Was verbinden Sie mit diesem Tätigkeitswort? Welche Verben fallen Ihnen ein, wenn Sie an Ihr eigenes Lesen denken? Cornelius Hell, Literaturkritiker, Übersetzer und Autor, legt gleich im Vorwort dieses Buches seinen Zugang offen: Lesen. Alles, was ich in die Hand bekomme von einem Schriftsteller, einer Schriftstellerin. Kreuz und quer durch das Werk lesen und einiges ganz genau. So lange, bis mir dieses Werk unausweichlich wird, bis ich es nicht mehr weghalten kann von meiner eigenen Wahrnehmung, meinem Empfinden und Denken. Bis ich mich nicht mehr heraushalten kann aus diesen Texten. Mich festlesen an Sätzen, denen ich nicht entkomme. (S. 9) Aus dieser Haltung heraus sind über Jahre hinweg zahlreiche kurze Essays für die Ö1-Sendereihe „Gedanken für den Tag“ entstanden. Diese „Streifzüge durch die Literatur“ – wie es im Untertitel heißt – bieten deshalb nicht nur kompakte Informationen und pointierte Analysen zu einzelnen Autorinnen und Autoren, sondern vor allem auch Einblicke in die (lustvolle) Arbeit eines passionierten Lesers. Cornelius Hell geht in seinen Lektüren aufs Ganze und ist damit weit entfernt von oberflächlichen und schnellen Zugängen zu Texten à la „30 Bücher, die man (nicht) gelesen haben muss, um mitreden zu können.“ Diese Intensität der Auseinandersetzung haftet jedem einzelnen der ursprünglich zweiminütigen (Hör-)Beiträge an, die hier versammelt sind. Vielleicht sollte man das Buch deshalb auch so lesen, wie es ursprünglich gedacht war: in kleinen Häppchen, die den Tag über nachklingen und Lesen und Leben durchdringen. Die einzelnen Miniaturen sind liebevoll gestaltet und genau durchkomponiert. Einmal erfolgt die Annäherung an einen Autor oder eine Autorin über die persönliche Begegnung oder die eigene Leseerfahrung, einmal ist es ein pointiertes Zitat, ein Bild oder eine Parallele zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema. Immer aber werden die Leserinnen und Leser mit hineingenommen in einen Leseprozess; die Neugierde ist geweckt, so wie hier mit den ersten Zeilen zu Gerhart Hauptmann: „Ich glaube, ich bin ein Genie.“ Wer so von sich redet, erntet nicht gerade Sympathie, vor allem, wenn er erst dreiundzwanzig Jahre alt ist und wenig vorzuweisen hat, worauf sich die stolze Behauptung gründen könnte – wie Gerhart Hauptmann, der seine Selbsteinschätzung in einem Brief hinausposaunte. (S. 82) Cornelius Hell hat einen sehr genauen Blick auf die Texte; einen Blick, der auf Details fokussiert und damit einzelne Wörter und Sätze ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Solche „Sätze“, die beim Lesen eine besondere Kraft entwickelt haben, bilden dann auch die Kapitelüberschriften zu den einzelnen Beiträgen: „Ein Blatt aus sommerlichen Tagen“ (Theodor Storm), „Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts“ (E.M. Cioran), „Nimmergrün und Amselstumm“ (Christine Busta), „Wilna, du reifer Holunder“ (Johannes Bobrowski), „Ich will meinen Kampf beten“ (Thomas Bernhard), „Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein.“ (Elfriede Gerstl) etc. Das Buch wird so auch zur Sammlung „einer eisernen Reserve von unvergesslichen Sätzen“ (S. 98), zu einem Sprachschatz, wenn die eigenen Worte einmal fehlen. Der genaue Blick verhindert gleichzeitig aber auch jegliche Romantisierung von Literatur. Die vorgestellten Autor*innen kommen mit ihren hellen und dunklen Seiten in den Blick. Da ist auch von der langen Sympathie Christine Bustas für den Nationalsozialismus die Rede oder von der Todessehnsucht Theodor Storms, der der Autor nicht folgen mag. Und auch das Lesen selbst will kritisch betrachtet sein. Wer weiß, ob Lesen nicht auch blind machen kann? Eine Form des Rückzugs sein kann? Und was, wenn aus einem Vielleser eine „Lesemaschine“ (S. 118) wird? Denn der Kopf eines Lesers wird allzu schnell zum Tummelplatz fremder Gedanken, wie schon Arthur Schopenhauer gewarnt hat. Er meinte: „Solches ist aber der Fall bei sehr vielen Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen.“ Da hilft nur eines: Sich das eigene Urteil über Bücher und Autoren nicht nehmen lassen und beim Lesen die eigenen Erfahrungen und Vorlieben nie aus dem Blick verlieren. (S. 118) Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht der Wunsch, basierend auf dem Klappentext von Wendelin Schmidt-Dengler: Stecken Sie sich dieses Buch als „Vademecum“ (lateinisch vade mecum „geh mit mir!“) in die Tasche. Dann ist für Begleitung auf Ihrem Lese-Weg gesorgt.
Helene Thorwartl
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Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum von Cornelius Hell (geb. 1956 in Salzburg, Österreich)
Cornelius Hell
auf der Fernkurs-Tagung
der Literarischen Kurse
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Mai 2019
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Neal Shusterman: Kompass ohne Norden Caden Bosch ist 15 Jahre alt, eigentlich ein tüchtiger, schlauer Schüler, ein freundlicher, witziger Junge. Die Realität scheint ihm jedoch zunehmend zu entgleiten, wenn er sich immer öfter von unerklärlichen Gefahren verfolgt, unbennenbaren Gefühlen zermürbt fühlt. Neal Shustermans Erzählung über Cadens psychischen Veränderungsprozess folgt dabei zwei Handlungssträngen, die auf eine Weise ineinander verzahnt sind, dass die Lektüre zwar keine leichte und rasche, dafür aber eine umso intensivere und ergiebigere sein kann, lässt man sich ganz auf den Text ein. Dieser lässt seine beiden Ich-Perspektiven zugleich gegeneinander, miteinander und ineinander erzählen: Jene von Cadens sich stetig intensivierenden Symptomen, in der er zunehmend die Kontrolle über seine Gedankenwelt verliert. Und jene von Cadens Aufenthalt auf einem ominösen Schiff, das an die tiefste Stelle des Marianengrabens unterwegs ist: das Challengertief – das auch den Titel für die englische Originalausgabe liefert. Auf dem Schiff zeichnet Caden das, was er sieht, erfährt und fühlt. Dabei trifft er nicht nur auf den bestimmenden, vermeintlich sympathischen, aber nicht unverdächtigen Schiffskapitän sowie ein mystifiziertes weibliches Wesen namens Kalliope, das sich in der (immobilisierten) Gallionsfigur des Schiffs körperlich manifestiert, sondern auch auf einen in Rätseln sprechenden Papagei, der in zur Meuterei anzustiften und in die Cocktailbar im Krähennest zu locken sucht. Auf dem Schiff im Ozean werden Raum und Zeit weit über die Grenzen des physikalisch möglichen hinausgeführt, ziehen endlose Kreise in der amorphen Masse von Wasser und Wellen. Perspektive und Größenverhältnisse werden verzerrt, Vernunft und Logikverständnis außer Kraft gesetzt. Der Steuermann sagt, ich solle mir deswegen keine Sorgen machen. Er deutet auf den Pergamentblock, auf dem ich oft zeichne, um mir die Zeit zu vertreiben. "Halt deine Gefühle mit Strich und Farbe fest"; rät er mir. "Farben, Garben, Narben, darben – deine Zeichnungen machen mich hungrig, schreien mich an, zwingen mich zu sehen. Meine Karten zeigen uns die Route, aber deine Visionen weisen uns den Weg. Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!" Der US-amerikanische Autor unternimmt dabei einen einmaligen Versuch, psychische Krankheit sprachlich zu fassen und literarisch darzustellen. Angesichts der Unmöglichkeit, von einer objektiven Außenperspektive eine wahrhaft 'authentische' Darstellung von Cadens Innenleben zu schaffen, greift Neal Shusterman auf eine phantastische, sekundäre Erzählebene zurück, die der realistischen, primären Erzählebene spiegelbildlich gegenüber gestellt wird. Mit dem Abstieg in die auf realistisch-mimetische Weise – so legt der Roman nahe – unergründlichen Tiefen von Cadens Unbewusstsein, steigen wir als Leser*innen mit ihm hinab zu einer Reise zum tiefsten Punkt der Erde. Auch wenn diese Analogie keine subtile sein mag, ist die literar-ästhetische Umsetzung dennoch außergewöhnlich. Als Darstellungsweise in der Literatur zielt Realismus im Sinne der Mimesis darauf ab, Wirklichkeit 'abzubilden', Wirklichkeit 'nachzuahmen'. Eine solche Erzählstrategie, die auf eine 'wirklichkeitsgetreue' Darstellung ausgerichtet ist, Was passiert also, wenn dein Universum allmählich aus dem Gleichgewicht gerät und du keine Erfahrung damit hast, es wieder in die Mitte zu rücken? (S. 39) Um sich dieser imaginären, sinnlichen und sprachlichen Leerstelle dennoch nähern zu können, verschränkt Neal Shusterman jene zwei Erzählebenen, die erst in ihrem reziproken Dialog sowie in ihren wechselseitigen Dissonanzen – ihren Rissen und Brüchen im Prozess der Bedeutungskonstruktion und des Erfahrbar-Machens, die trotz der Parallelführung der fiktionalen Figuren(entwicklung) offen bleiben – ihre volle Bedeutung erschöpfen. Der Roman ist dabei nicht 'nur' Fiktion; in ihm greifen Realität und Fiktionalität auf fast unheimliche Weise ineinander.
Claudia Sackl
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Kompass ohne Norden
Illustration von Brendan Shusterman. |
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April 2019
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Brigitte Schwens-Harrant und Jörg Seip: Mind the gap – Achten Sie auf den Spalt! Achten Sie auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig, aber auch auf die Kluft zwischen Mann und Frau, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Spannungen zwischen den Religionen und den Spalt ganz allgemein zwischen uns und den anderen, zwischen hier und dort, links und rechts … Jede und jeder von uns ist täglich damit beschäftigt, Trennlinien zu markieren, Abstände festzulegen und sich abzugrenzen – als „Sicherheitshinweis“ sozusagen für sich und die anderen. Dabei geht es immer um die Fragen: Wo fange ich an? Und wo höre ich auf? Wer bin ich? Und was bzw. wo sind meine „Wurzeln“? Entlang dieser „gaps“ konstruieren wir unsere Identität. Und das ist gut so: Es geht nicht um die Frage, ob Identität oder nicht – sie ist unumgänglich –, sondern um die Frage des Wie: Wie werden Identitäten gebildet? (S. 11 und 134) Die beiden Autor*innen, Brigitte Schwens-Harrant (Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“, Literaturkritikerin) und Jörg Seip (Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bonn) überschreiten den „Spalt“ zwischen ihren unterschiedlichen Professionen und legen in ihrem Essay-Band gemeinsam Sieben Fährten über das Verfertigen von Identitäten. Wie lässt sich die „eigene“ Identität benennen? Welche Rolle spielt dabei die „andere“ Identität? Wie wird verfertigt? Und wem dient das? Zu welchem Zweck? Und gibt es alternative Zuschreibungen und Narrationen? Die Autor*innen nehmen exemplarisch sieben Bereiche, in denen Identitätsfragen verhandelt werden, in den Blick: Liebe, Gender, Stadt, Hybride, Othering, Religion und Gast. Dabei zeigt sich, dass Identität nicht als fertiges Produkt zu haben ist. Es ist fast unmöglich, einen festen Kern (S. 10) zu benennen, der immer gleich bleibt und sich überzeitlich fassen lässt. Im Gegenteil: Identität realisiert sich in der Auseinandersetzung und im Austausch mit dem „Anderen“. Ein sprechendes Beispiel des Soziologen Stuart Hall, der hier zitiert wird: Tee steht symbolisch für englische Identität, wird aber gar nicht im Vereinigten Königreich angebaut, sondern stammt aus Ceylon/Sri Lanka: „Es gibt keine englische Geschichte ohne diese andere Geschichte. Die Vorstellung, Identität habe etwas mit Menschen zu tun, die alle gleich aussehen, auf dieselbe Weise fühlen und sich selbst als Gleiche wahrnehmen, ist Unsinn. Identität als Prozeß, als Erzählung, als Diskurs wird immer von der Position des Anderen aus erzählt.“ (S. 71) Idealerweise wird dabei dieser Spalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu einem „Zwischenraum“, der nicht nur eine Grenze markiert, sondern neben „hier“ und „dort“ noch ein Drittes schafft. – Vergleichbar mit einem Treppenhaus, das nicht nur die notwendige „Lücke“ zwischen einzelnen abgeschlossenen Wohnungen bildet, sondern auch zu einem Ort des „Verhandelns“ und der Interaktion werden kann. Aus dem Sicherheitshinweis „Mind the gap“ wird dann ein Wegweiser, wie das Verfertigen der eigenen Identität im Austausch ständig voranschreiten kann. Wer nach der Lektüre dieses Buches gleich in Bewegung bleiben will, sei auf die vielen literarischen Zitate verwiesen, welche die fundierten theoretischen Analysen der sieben Essays gekonnt begleiten, weiterführen, verstärken, spiegeln, aber auch kritisch hinterfragen, unterwandern, ironisieren, bloßlegen – was Literatur eben so vermag. Jane Austen, Michael Stavaric, Olga Flor, Toni Morrison, Nadine Gordimer, Ta-Nehisi Coates, Sinclair Lewis und noch viele mehr laden Sie ein, lesend alternative Identitätskonstruktionen zu erkunden. Doch: Achten Sie auf die Lücke zwischen Text und LeserIn! Es kann sein, dass beim Überschreiten des Spalts ganz unvorhersehbar etwas Neues entsteht: [So] verhält es sich mit dem literarischen Text und den literarischen Leserinnen und Lesern: Diese gibt es nur aufgrund von Übersetzungen. Übersetzungen haben die Funktion, etwas zu ersetzen, zu transformieren und zu erfinden. Und das betrifft Texte und Leserinnen zugleich: „Den“ Text gibt es ebensowenig wie es „die“ Leserin gibt, sie werden geboren im Akt der Lektüre […]. (S. 116)
Helene Thorwartl |
Brigitte Schwens-Harrant ist Feuilletonchefin der österreichi-schen Wochenzeitung Die Furche, Literaturwissenschaftlerin (Universität Innsbruck) und Literaturkritikerin. Weitere Publikationen: u.a. Ankommen. Gespräche mit Dimitré Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinovich und Michael Stavaric (2014);
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März 2019
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Nadine Kegele: Anlässlich des Weltfrauentags am 8. März soll dieses Monat das Buch einer jungen österreichischen Autorin im Zentrum stehen, die sich bereits in ihrem Debüt Annalieder (Czernin Verlag 2013) mit den facettenreichen Lebenswelten von Frauen* auf direkte und unverklärte Weise literarisch auseinandergesetzt hat. In Lieben muss man unfrisiert bringt Nadine Kegele nun diversitätssensible Genderthematiken über einen Publikumsverlag an ein breites Lesepublikum. Nach dem Vorbild von Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne, in dem die österreichische Schriftstellerin vor gut 40 Jahren Tonbandprotokolle von Gesprächen mit Frauen über ihr Leben veröffentlichte – und das längst zu einem den Feminismus prägenden Klassiker geworden ist –, befragt Nadine Kegele nun weitere 19 Frauen* und Transgender-Personen zwischen 16 und 92 Jahren zu ihrem Leben, ihren Gefühlen und ihren Verletzlichkeiten. Sie sprechen über Körper und Sexualität, Familie und Beruf, über die Herausforderung Identitäten zu konstruieren, neu zu erfinden und nach außen zu tragen und davon, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Eingeleitet wird die Kompilation von einem fiktiven Gespräch zwischen Nadine Kegele und der vor knapp 42 Jahren verstorbenen Maxie Wander, sowie von einem engagierten Vorwort von Marlene Streeruwitz, das unabhängig von Nadine Kegeles bemerkenswerten Protokollen selbst schon ein absolutes Lektüre-Muss darstellt. In ihrem Vorwort begreift die renommierte österreichische Autorin Sprache als jenes Instrument, das Geschlecht erst sprechbar macht (S. 21), und utopiert eine sprachliche Selbstbestimmung von Identität: Unsere Kinder sollen sprechen lernen und nicht gesprochen werden (S. 23). Entsprechend sprachgewandt führt Marlene Streeruwitz vor Augen, wie Nadine Kegeles Buch der vermeintlichen Unsprechbarkeit (S. 23) normabweichender Lebenskonstruktionen entgegenwirkt.
Nadine Kegele stellt die gesellschaftlichen Normen patriarchaler Strukturen – jene des weißen, heterosexuellen Mannes – infrage, die unsere Gesellschaft trotz aller postfeministischer Begriffsbemühungen immer noch prägen, wenn wir beispielsweise Gewalt als selbstverständliche[n] Bestandteil des Lebens im gewählten Geschlecht (Vorwort von Marlene Streeruwitz, S. 20) ansehen ...
... wenn Genderfreiheiten mehr als Geschenke angesehen [werden] und nicht als Rechte (Vorwort von Marlene Streeruwitz, S. 20) und wenn das Gewicht nicht leichte genug [ist], die Schwere der Norm zu füllen (ebda, S. 21).
Die auf Tonband aufgezeichneten und von Nadine Kegele verschriftlichten und redigierten Protokolle berichten aber nicht nur von Geschlechterverhältnissen und der Rolle der Frau*, sondern sprechen auch soziale Ungerechtigkeit, Migration, Flucht und Rassismus an und verdeutlichen so das Zusammenwirken von Geschlecht, sexueller Orientierung, Klasse, Ethnie, Alter, Gesundheit, Behinderung, sowie die erfahrenen Diskriminierungen und Privilegien aufgrund dieser Faktoren.
Die vielstimmigen Erzählungen bewegen sich dabei stets zwischen Selbstbestimmung und Selbstzweifel, zwischen Macht und Ohnmacht. Sie sprechen unzensiert tabuisierte Themen wie Menstruation, Verhütung und Schwangerwerden an und verhandeln die dabei entstehenden Konflikte und Komplikationen. Besonders erschreckend ist, dass so gut wie alle der Befragten mit sexuellen Übergriffen im privaten oder öffentlichen Leben konfrontiert waren, sei es zu Hause, beim Gynäkologen oder in der U-Bahn.
Nadine Kegele schafft so ein faszinierendes Zeitzeugnis (Sara Schausberger, Der Standard), das nicht nur normative, sondern unterschiedlichste Formen von Gender und Geschlecht kennt, lebt und akzeptiert. Dennoch liegt dem Buch natürlich ebenso ein künstlerische[s] Konzept (Nadine Kegele in Annette Raschner, Kultur) zugrunde. Die gesprochenen Tonbandaufzeichnungen verdichtet die Autorin in ihrem Buch zu schriftlichen fragmentierten Monologen, deren Dialogizität erkennbar bleibt, obwohl die Fragen der Autorin selbst nicht abgedruckt sind, aber stets in den Zwischenräumen der Erzählungen hindurchschimmern. Das Spektrum der zu Wort kommenden Personen gestaltet Nadine Kegele äußerst vielfältig und bezieht Menschen mit unterschiedlichster Ausbildung, verschiedensten Berufen und diversen Identitätsentwürfen ebenso ein, wie autochthone Österreicher*innen und Menschen mit migrantischem Hintergrund. Nicht zuletzt aufgrund dieser diversitären Zusammenstellung hinterfragen Nadine Kegeles literarisch adaptierte Tonbandprotokolle binäre Geschlechtszuweisungen und stellen sich gegen eine Geschichtsschreibung „von oben“.
Natürlich können die Leser*innen mit den Aussagen der Befragten übereinstimmen oder nicht, können sich davon irritiert, ja provoziert fühlen. Aber genau darum geht es (auch) in den Protokollen auf Tonband. Um das Zu-Wort-Kommen-Lassen aller Stimmen, um das Versprachlichen von Erlebnissen und das Gehört-Werden des Erzählten – unabhängig von persönlichen politischen Positionierungen und Agenden.
ist auf dem knallroten Vor- und Nachsatzpapier des Bandes abgedruckt und fordert lautstark nicht nur das Gehört-Werden, sondern auch das Zuhören ein und zeigt so, dass jedes Leben erzählwürdig ist, auch wenn es erst aus der [vermeintlichen] Bedeutungslosikeit (Annette Raschner, Kultur) geholt werden muss.
Claudia Sackl |
Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband
Marlene Streeruwitz
Guten Morgen, du Schöne
Nadine Kegele
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Februar 2019
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Jackie Kay: In ihrer Gedichtsammlung Die Adoptionspapiere erzählt die schottische Schriftstellerin Jackie Kay von drei Frauen: Einer schottischen, jungen Frau, die in den 1960er Jahren nach einer Beziehung mit einem nigerianischen Mann schwanger wird. Einer ebenso schottischen, nicht mehr ganz so jungen Frau, die sich schon seit Jahren ein Kind wünscht. Einem schwarzen Mädchen, das nach seiner Geburt in einer Brutkammer ums Überleben kämpft und, als es aus dem Krankenhaus entlassen wird, von einer weißen Frau adoptiert wird. Diese Ausgangssituation des Lyrikbandes schöpft sich aus der Biografie der Autorin, die diese auch in ihren – leider (noch) nicht ins Deutsche übersetzen – großartigen autobiografischen Roman Red Dust Road (2010) einfließen ließ. Geboren in Edinburgh, mit einer schottischen leiblichen Mutter und einem nigerianischen leiblichen Vater, der schon vor der Geburt seiner Tochter wieder in seine Heimat zurückkehrte, wurde Jackie Kay als Baby von einem schottischen weißen Paar, Helen und John Kay, adoptiert. In ihren Gedichten verwebt die mittlerweile 57-jährige Autorin nun drei unterschiedliche lyrische Ichs ineinander: jenes der Tochter, der leiblichen Mutter und der Adoptivmutter, die jeweils in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt sind und durchwegs namenlos bleiben; abgesehen von der typografischen Differenzierung werden sie lediglich durch die vorangesetzten Abkürzungen (T), (LM) und (AM) markiert. Mal sprechen die drei Figuren in individuellen, abwechselnden Monologen, mal verschränken sich die Stimmen in einzelnen Strophen, einzelnen Versen, manchmal sogar innerhalb derselben Zeile. Zwar mögen die drei Stimmen über ihr Schriftbild voneinander getrennt sein, zusammen sind sie dennoch mehr als ihre Summe. In ihrem polyphonen Dialog, der sowohl räumliche als auch zeitliche Grenzen zu überbrücken vermag, finden sie mal über weite geografische Entfernungen zueinander: (LM) Nie hätte ich gedacht, dass ein Spaziergang Mal durchschneiden sie unterschiedliche Zeitebenen, in deren Überlagerung die intersubjektive Bindung zwischen Adoptivmutter und Tochter widerhallt: (T) Meine Mammy sag, sie ist nicht meine richtige Mammy (nur ich ihr Kind). Nicht nur diese Passage zeugt in den Gedichten von den Schwierigkeiten, als dunkelhäutiges Kind in einer weißen Gesellschaft aufzuwachsen. In einer Gesellschaft, in der weiße Haut zu einem solchen Grad normalisiert wurde, dass (T) selbst nur durch ihr Spiegelbild an ihre Andersheit erinnert wird: (T) Meistens vergesse ich drauf, Zugehörigkeit lässt sich für (T) nicht durch ihre biologische Abstammung festmachen, sondern entwickelt sich allein aus ihrem sozialen, familiären Umfeld: (T) mein Blut, (T) Ich habe keine Nase keinen Mund, keine Augen, Dass diese scheinbare Einsamkeit für (T) aber keinesfalls eine schmerzvolle ist, wird im Laufe der Gedichtsequenzen deutlich. Unabhängig von ethnischen oder „rassischen“ Zuschreibungen hinterfragt Jackie Kay in ihrem Text auch, was Mutterschaft (und Vaterschaft) bedeutet und ob die Bindung zwischen leiblicher Mutter und Tochter tatsächlich durch nichts gebrochen werden kann. Wer ist nun (T)s „richtige Mutter“? Ist Blut wirklich dicker als Wasser? Ist (AM) erst dann Mutter, wenn sie die Adoptionspapiere, den Wisch unterschrieben ha[t] (S. 15)? (AM) Neugier. Das ist selbstverständlich. Abstammung. In Die Adoptionspapiere dekonstruiert Jackie Kay also auf doppelte Weise den existentiellen Determinismus von biologischer Abstammung, leiblicher Herkunft und „Blut“. Die vielstimmigen Resonanzen zwischen Tochter, leiblicher Mutter und Adoptivmutter – drei weibliche Subjektpositionen unterschiedlicher Generationen und unterschiedlicher Ethnien, die als figurale Leerstellen (T), (LM) und (AM) mannigfaltige Interpretationspotentiale bergen – hallen dabei als eigenständige Textfragmente zwischen den Zeilen wider und schöpfen auf besondere Weise aus einer Darstellungsstrategie, die in diesem Fall nur unzulänglich mit dem erzähltheoretischen Begriff der „Multiperspektivität“ bezeichnet werden kann.
Claudia Sackl |
Die Adoptionspapiere. Gedichte
Red Dust Road
Jackie Kay ist Autorin von Gedichten und Romanen, Professorin für Kreatives Schreiben an der Newcastle University und die derzeitige "Makar" (schottische(r) Poet Laureate).
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Jänner 2019
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Natascha Wodin: In unserer Fernkursreihe „Ver-rückte Biographien“ haben wir uns im Jänner 2018 intensiv mit der Autorin Natascha Wodin und ihrem Buch Sie kam aus Mariupol beschäftigt. In diesem Text geht Wodin den Lebensspuren ihrer früh verstorbenen ukrainischen Mutter nach, die als Zwangsarbeiterin 1944 nach Deutschland gekommen war. Um die vielen Leerstellen dieses „verlorenen“ Lebens zu füllen, erprobt die Autorin ein ganz eigenes literarisches Verfahren, in dem sie dokumentarische und fiktionale Elemente kombiniert und damit gängige Gattungszuschreibungen aushebelt. Für diese außergewöhnliche literarische Spurensuche erhielt Natascha Wodin 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. In ihrem neuen Buch Irgendwo in diesem Dunkel spinnt die Autorin den „Stoff“ ihrer Eltern weiter und fokussiert nun auf den Vater, mit dem sie als elfjährige Tochter – zusammen mit der jüngeren Schwester – nach dem Freitod der Mutter 1956 zurückbleibt. Der Vater ist zwar physisch greifbar, bleibt aber dennoch ein Leben lang fremd. Eine weitere Spurensuche beginnt, ein Versuch zu verstehen, welche Prägungen ihn zu jenem harten, stummen und gewalttätigen Menschen gemacht haben könnten, von dem sich die Tochter erst spät und nur mühsam befreien kann. Auf dem Buchcover findet sich ein Ausschnitt eines Fotos, das die Leser*innen von Sie kam aus Mariupol bereits kennen. Es zeigt Natascha Wodin mit ihrem Vater am Grab der Mutter: ein junges Mädchen im mächtigen Schatten eines Mannes, unkenntlich, mit verschwimmenden Konturen … Die wenigen bekannten Fakten dieses „Vaterlebens“ sind schnell erzählt und werden auch gleich am Beginn des Buches offengelegt: 1900 in Kamyschin im zaristischen Russland geboren, 1944 aus dem ukrainischen Mariupol als Zwangsarbeiter nach Deutschland in den Rüstungsbetrieb der Firma Flick gekommen, danach in Lagern bzw. einem Wohnblock für Displaced Persons untergebracht, zeitlebens ein stummer Fremder bleibend, abgeschottet von der deutschsprachigen Umwelt; „Schutzräume“ bieten ihm seine Singstimme (er ist lange Mitglied in einem Don Kosaken Chor) und die russischen Bücher, die er sich zeitlebens zusenden lässt. Die Tochter – von ihm aufs Schlimmste drangsaliert und erniedrigt – wagt es nicht, an seinem Schweigen zu rühren: Erst später begriff ich, dass ich in einem doppelten Schweigen aufgewachsen war, dem Schweigen meiner russischen Eltern und dem Schweigen meiner deutschen Umwelt. Meine Eltern schwiegen über etwas anderes als die Deutschen, es gab zwei Wahrheiten, von denen ich nichts wusste, ich spürte nur immer und überall das Ungesagte, das Unsagbare, das wie ein undurchdringlicher Nebel war, wie Stickstoff, den ich ständig einatmete. (S. 92) Gegen diesen „Nebel“ schreibt Natascha Wodin an. Ausgehend vom Tod ihres Vaters im Jahre 1989 erzählt sie in Rückblenden. Dabei setzt sie immer wieder neu an, es sind einzelne Versuche, scharfe Schnitte, Schneisen in die Vergangenheit. Manches lässt sich aus der allgemeinen Geschichte jener Zeit rekonstruieren, manchmal helfen Zeitdokumente, Fotos oder Gedichte, um die eigene Vorstellungskraft zu aktivieren: Ich stelle mir vor […] Es gelang ihm wahrscheinlich […] Vermutlich hatte mein Vater […] (S. 163f.). Manchmal aber bleiben auch nur Fragen, mit denen sich die Autorin Leerstellen erschreibt: Und von wo war er geflohen […]? Wie war er denn meiner Mutter begegnet, einer Frau, die aus einem ganz anderen Milieu stammte als er selbst? Was verband ihn, den Mann aus dem einfachen Volk, mit dem um zwanzig Jahre jüngeren, auffallend schönen, fragilen Mädchen aus einer Familie verfolgter ukrainischer Aristokraten und italienischer Kaufleute? Und wie war er schließlich mit dieser Frau nach Deutschland gekommen? (S. 91) Die Fragen sind auch ein Versuch, dem verhassten Vater angesichts seines Todes zumindest ein Stück weit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Und wie hätte ein Mensch, der nie Freiheit erfahren, dessen Leben sich im Würgegriff zweier Diktaturen abgespielt hatte, einem anderen, noch dazu seinem eigenen Kind, Freiheit gewähren können? (S. 180) Natascha Wodin erzählt in einer nüchternen und distanzierten Sprache, im Stil einer Recherche oder Reportage. Sie hat es auch gar nicht nötig, Emotionen und Gefühle auszufalten und zu beschreiben, denn die von ihr gewählten Bilder sprechen für sich und berühren unmittelbar. Das „Chinin“ zum Beispiel, das ihr Vater gegen die Malariaanfälle verabreicht bekommt: Er wirkte ganz durchdrungen von dem Chinin, das ihm, so kam es mir vor, seine Unverwundbarkeit verlieh, die unerbittliche Schlagkraft seiner Hände. (S. 50) Oder, an anderer Stelle, das Bild der „Schmutzwäsche“: Mein Vater kontrollierte vor dem Waschen die schmutzige Wäsche, und ich musste ihm dabei zusehen. Ich verstand nicht, was er eigentlich kontrollierte […] Ich war das Wäschestück in meines Vaters Händen, und er konnte damit machen, was er wollte. (S. 104) Am Ende hat sich Wodin – am offenen Grab des Vaters stehend – ein Bild ihres Vaters erschrieben; es ist ein Bild mit Schatten und subjektiven Anteilen, und es ist ein Bild, das ihr ansatzweise erlaubt, loszulassen und mit einer neu gewonnenen Leichtigkeit auf ihre Kindheit und Jugend zu blicken: Bis zur letzten Sekunde auf der Erdoberfläche blieb das Leben meines Vaters eine Ungereimtheit, ein Fiasko, und gleichzeitig schien er, noch einmal befreit aus dem Gehäuse des Sarges und unter dem offenen Himmel liegend, zurückgegeben an die Natur, an Regen und Wind, entlassen in die Freiheit jenseits aller Gesellschaften und Systeme. (S. 238) Festhalten lässt sich dieses Bild allerdings nicht. Als die Tochter am Grab noch schnell ein paar Fotos macht, um das Leben ihres Vaters zu dokumentieren, muss sie feststellen: Helene Thorwartl |
Irgendwo in diesem Dunkel
Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2017 an Natascha Wodin
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