Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps


Dezember 2018

 

 

Martin Auer:
Der Himmel ist heut aus Papier. Gedichte
Wien: Klever, 2018.

Eine lyrische Textauswahl aus fünf Jahrzehnten versammelt dieser Gedichtband des österreichischen Schriftstellers, Geschichtenerzählers und Übersetzers. In unterschiedlichsten Formen und Klängen literarisiert er unterschiedlichste Lebenserfahrungen, die nicht selten von den sinnlichen Eindrücken der Jahreszeiten geprägt sind:

Wer kann die Farben des Himmels beschreiben,
spät an einem schneelosen Wintertag,
wenn dünnere Wolken doch noch einen vagen Glanz
empfangen von der sich neigenden fernen Sonne
und Schwärme von Krähen darunter hinwegziehen
heim zu den Nestern?
(S. 79)

Die Unbeschreiblichkeit der Natur durch die menschliche Sprache, deren Unzulänglichkeit in diesem Gedicht thematisiert wird, wird an anderer Stelle konterkariert, wenn ganz plastische, haptische Metaphern für die Erscheinungsformen des weihnachtlich-winterlichen Himmels gefunden werden:

Der Himmel ist heut aus Papier
und mit Filzstift hat jemand
drauf Wolken gemalt.
Auf den Dächern der Häuser
gehen Engel mit ihren Harfen spazieren,
als ob sie ihnen gehörten.
(S. 94)

Ob in Versform oder in lyrischer Prosa – ob als Haiku oder als Song, als Gedichtfragment oder als mehrteiliger Gedichtkomplex – ob in deutscher Standardsprache, in wienerischem Dialekt oder in Englisch: stets belebt die musikalische Qualität von Martin Auers Gedichten die oft schweren und schwierigen Themen seiner Texte. Denn es ist nicht unbedingt ein Wohlfühl-Buch mit gemütlich-wohligen Gedichten zum Einkuscheln auf dem Sofa an grauen, schneebedeckten Wintertagen. Dennoch lassen die stimmigen formalen Kompositionen seiner Lyrik, die ihre gesellschaftskritischen Dimensionen an keiner Stelle einbüßt, die Schönheit hinter den Vergänglichkeiten, Ungerechtigkeiten und Schieflagen des Lebens erkennen. Dabei sind es vor allem die unscheinbaren Alltagsszenen, die eine schwer-wiegende Bedeutung offenbaren:

Auf aan klaan Mäuerl vur aan Supermarkt
steht a jungs Madl in aan Dirndlklaad und singt si aans.

Leit gehen vorbei, Autos foahrn, maunche schaun hin, aber
die meistn net.

Und sie steht auf den Mäuerl
mit Augn zua
und schwingt ganz leicht ihre Zopferln hin und her
und huacht auf des Liad,
des nua iah gheat,
des nua iah gheat.
(S. 121)

So auch in einem Gedicht über einen schmutzigen Lichtschalter, der als motivischer Platzhalter für das eigentliche Thema, über das das lyrische Ich gerne sprechen/schreiben würde, herhalten muss. Mit der Verrückung dieser literarischen Äußerung vollzieht der Autor auch eine Verschiebung unseres traditionellen Verständnisses von Kunst und legt die kulturelle Konstruiertheit und Beliebigkeit des Status des Künstlerischen offen, wenn ihm im Museum aufgrund des Fotografieverbots nur der Lichtschalter als Fotomotiv übrigbleibt:

And in fact, I am
not displeased with that bargain.
The light switch, I think,
has all the qualitites of a work of art,
it is full of surprises and mysteries.
There are broken symmetries
to be found and variations of
regularity,
and the more I look at it
the clearer it gets
that in fact it is
the relic of an ancient civilization,
fraught with history
and fate
and human desires
and all that stuff.
(S. 56)

Ähnlich suggestiv und von einer deutlicheren Leichtigkeit erfasst sind die 32 Haikus, die an den Anfang der Lyrikanthologie gestellt sind und über die einzelnen Gedichte hinweg eine sich fortschreibende Kontinuität erkennen lassen. Die immanenten Emotionen sind durch die Konkretheit der Sprachbilder bei der Lektüre umso intensiver erfahrbar und bezeugen auch erste Spuren eines frühlingshaften Erwachens:

Auf meinem Bildschirm
die Welt. Vor meinem Fenster
Bäume, ein Buchfink.
(S. 6)

Ach dieser Duft
aus ganz früher Zeit,
ich weiß seinen Namen nicht.
(S. 24)

Vorjähriges Blatt
unter den grünen Knospen.
Der Wind wird stärker.
(S. 20)

 

Claudia Sackl

 

Der Himmel ist heut aus Papier
von Martin Auer (geb. 1951 in Wien, Österreich)

www.martinauer.net

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




Foto: Homepage des Autors
Martin Auer war Dramaturg, Schauspieler, Musiker, Journalist, Liedermacher, Werbetexter. Seit 1986 lebt er als freier Schriftsteller, Geschichtenerzähler und Übersetzer in Wien und verfasste zahlreiche Bücher und Hörbücher für Kinder und Erwachsene.
www.geopoetry.net
 

 

 

 

 

 

 


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November 2018

 

 

Manfred Loimeier:
Literaturen aus Afrika. Aufbruch in ein neues Selbstbewusstsein
Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 2018.

Mit dem Lese-Tipp im November halten wir Rückschau auf einen Themenkomplex, mit dem wir uns in mehreren unserer vergangenen Fernkurse für Literatur beschäftigt haben. In Literaturen aus Afrika. Aufbruch in ein neues Selbstbewusstsein zeichnet Manfred Loimeier, Leseheftautor im Fernkurs III "In die Ferne lesen" sowie im Fernkurs IV "Ver-rückte Biographien. Mit vier Büchern durch die Welt", anhand von zwei Romanen Entwicklungslinien nach, die viele Literaturen und Literat*innen in Afrika derzeit durchlaufen:

Der Bauch des Ozeans von Fatou Diome (2003; Orig. Le Ventre de l'Atlantique) und
Wir brauchen neue Namen von NoViolet Bulawayo (2013; Orig. We Need New Names).

Beide verhandeln in ihren Romanen nicht nur aktuelle Themen wie Migration, Fremdenfeindlichkeit oder Entwicklungshilfe, sondern problematisieren auch „die Anwendbarkeit der Prinzipien der Transkulturalität“ (S. 10). Während die senegalesische Fatou Diome auf die Verschiebungen zwischen den Wohlstandserwartungen bzw. -fantasien und den tatsächlichen Lebensrealitäten in Europa, die oft von Armut und Fremdenfeindlichkeit geprägt sind, eingeht, macht die simbabwische NoViolet Bulawayo Kulturbrüche im Alltag in Simbabwe und den USA deutlich. Mit ihrer Kritik am Eurozentrismus und den gelebten Alltagskulturen des Westens, vollziehen die beiden Autorinnen laut Loimeier auch eine intellektuelle Emanzipation, die eine Abkehr […] von den als Normen gesetzten Maßstäben des Westens und eine Besinnung auf eigene, neu zu definierende Handlungsmaximen (S. 96-97) mit sich bringt: Also genau das, was […] in der langen Tradition der These von der Dekolonisierung des Denkens steht, die Mitte der 1980er Jahre Ngũgĩ wa Thiong’o gefordert hatte (S. 97).

Die Monographie beruht zum Teil auf Fernkursmaterialien, die er zwischen 2014 und 2017 für die Fernkurse für Literatur der Literarischen Kurse erarbeitet und in seiner neuen Publikation aktualisiert, überarbeitet und ergänzt hat. Sie schlägt Brücken zur Vielfalt der literarischen Kulturen und Sprachen Afrikas und stellt traditionelle Grenzziehungen infrage. Gleich vorab sensibilisiert Manfred Loimeier für die Problematik der Übertragung eines westlichen Verständnisses von Nationalliteraturen auf die literarischen Strömungen und Traditionen in den unterschiedlichsten Kulturen Afrikas und allzu schnell gemachte, konventionalisierte Kategorisierungen, wie zum Beispiel auch den lange gewöhnlichen Ausschluss Nordafrikas (nördlich der Sahara) aus der Bezeichnung „afrikanische Literaturen“, die stets zwischen geographischen und kulturellen Aspekten oszilliert. Aus postkolonialer Perspektive öffnet er dabei Leseweisen, die die globale Vormachtstellung der westlichen Normen und Denkweisen denaturalisieren, und ruft auch Deutschlands und Österreichs historisches Erbe des Imperialismus und Kolonialismus in Erinnerung. Denn die deutschsprachigen Länder Europas haben sich auch durch ihren frühen Rückzug aus ihren Kolonien nicht den globalen neokolonialen Dominanzstrukturen und den Diskussionen des Postkolonialismus entzogen:

Sprich: Die mentalen Strukturen des Kolonialismus hallen noch immer nach, führen zum Fortdauern des Kolonialismus nach dem Kolonialismus und entwickeln dabei sogar eine eigene, sich selbst neu schöpfende Dynamik. Und das geht bis in die Details des Alltags, wie Ngũgĩ wa Thiong’o in seinem Essayband „Moving the Centre“ am Beispiel der für Afrikatouristen produzierten Souvenirkunst beschreibt: „Was deshalb oft offiziell als authentische afrikanische Kultur von heute vorgeführt wird, ist praktisch eine Wiederholung der kolonialen Tradition: Touristenkunst, Tänze, akrobatische Verrenkungen.“ (S. 16)

In einem historischen Abriss zeichnet Manfred Loimeier transnationale anti- und postkoloniale Gegenbewegungen  nach und greift dabei auf die großen Theoretiker*innen der postkolonialen Studien wie Aimé Césaire, Frantz Fanon, Edward Said, Bill Ashcroft und Gayatri Spivak zurück. Einen ausführlichen Blick wirft er auf die literarische Gegenrede, das „Writing back“ bzw. „Re-Writing“ kolonialer Geschichte(n) und Narrative, und ihre kulturellen, sprachlichen sowie wirtschaftlichen Kontexte am internationalen Buchmarkt.

Anstatt aber nur über afrikanische Literaturen und Autor*innen zu sprechen, lässt Manfred Loimeier zwei afrikanische Schriftstellerinnen selbst zu Wort kommen. In Gesprächen mit Fatou Diome und NoViolet Bulawayo erkundet er den Entstehungskontext ihrer Werke und ihre Selbstauffassungen als (afrikanische) Autorinnen.

 

Claudia Sackl

 

Literaturen aus Afrika
von Manfred Loimeier (geb. 1960 in Passau, Deutschland)

 

 

 


Foto: vom Blog des Autors
PD Dr. Manfred Loimeier ist Professor für afrikanische Literaturen in englischer Sprache an der Universität Heidelberg sowie Autor, Herausgeber, Übersetzer, Redakteur, Moderator, Literaturkritiker und Blogger.

www.manfred-loimeier.de

 

 


Fatou Diome: Der Bauch des Ozeans
Zürich: Diogenes, 2003.


 

NoViolet Bulawayo: Wir brauchen neue Namen
Berlin: Suhrkamp, 2013.


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Oktober 2018

 

 

Theodora Bauer:
Chikago
Wien: Picus 2017

"Chikago": Vermutlich werden die meisten Leserinnen und Leser dabei an jene drittgrößte US-amerikanische Stadt am Michigansee im Bundesstaat Illinois denken, verkehrsgünstig gelegen, im 19. Jahrhundert rasant expandierend, industrielle Großmacht und – wie der Buchumschlag nahelegt – Sehnsuchtsort zahlreicher Auswanderer und Auswanderinnen aus vielen Ecken der Erde.

Vielleicht weiß die eine oder der andere andere auch von den Tausenden Burgenländer*innen, die im 19. und 20. Jahrhundert in mehreren Auswanderungswellen das Land verließen und in den USA auf ein besseres Leben hofften, bevorzugt auch in Chicago. In den 1970er Jahren soll es in der Stadt mehr als 30.000 burgenländische Einwander*innen gegeben haben (mehr als drei Mal so viel Menschen wie im damaligen Eisenstadt).

Und ganz wenige wissen vielleicht auch um das österreichische "Chikago", jene Siedlung im burgenländischen Grenzort Kittsee, die möglicherweise von einem Rückkehrer so benannt wurde und jedenfalls sehr beredt von der Amerika-Sehnsucht zahlloser Burgenländer*innen erzählt.

Wer also das Buch der Autorin Theodora Bauer zur Hand nimmt, kann bereits erahnen, welche Denk- und Lesebewegungen auf ihn oder sie warten: Der Ausbruch aus Armut und Perspektivenlosigkeit, die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das Ausgespanntsein zwischen Heimat und Fremde, die verschwimmende Grenze zwischen Erfolg und Scheitern – die Bewegung zwischen Chicago mit "c" und Chikago mit "k" eben ...

Der Roman setzt ein in den 1920er Jahren im ehemaligen Deutsch-Westungarn bzw. nunmehrigen Burgenland: die neuen Grenzen verunsichern, Lebensadern werden durchschnitten, für die Burgenland-Kroaten kommt noch die Unsicherheit über die eigene Identität hinzu. Brüche noch und nöcher ... und die Sprache ist dafür ein Gradmesser, wenn sich beispielsweise die Namen der Protagonist*innen je nach Kontext abwandeln: Aus Franjo wird Ferenc (Feri), aber auch Franz oder Frank.

Gemeinsam mit einem Schwesternpaar, Katica und Anica, versucht Feri sein Glück in der Neuen Welt. Der erste Arbeitstag ist ernüchternd:

Ein älterer Mann ist auf den Feri zugekommen und hat ihm die Hand geschüttelt. Er hat ein paar Worte gesagt, die der Feri nicht verstanden hat. Dann hat er mit den Schultern gezuckt und stattdessen auf einen Wagen gedeutet, auf dem einige Schaufeln gelegen sind. Der Feri ist hingegangen und hat eine Schaufel ergriffen. Aus den Augenwinkeln hat er die Männer betrachtet, die neben ihm gearbeitet haben. Es sind nicht viele gewesen. Sie haben nett ausgesehen. [...] Der Feri hat gearbeitet wie ein Tier, und je länger der Tag gedauert hat, desto ärgerlicher ist er geworden. Ab und zu hat einer von den Männern ein Lachen losgelassen, und obwohl Feri gewusst hat, dass es nicht ihm gegolten hat, hat es hämisch geklungen in seine Ohren. Der Feri hat die Worte gehört, die sie einander zugerufen haben, seltsame Laute, die ihn ausgeschlossen haben von dem, was passiert. [...] Langsam, während er so geschaufelt hat, ist dem Feri bewusst geworden, wie dumm er gewesen ist. Wie wenig er nachgedacht hat über das, was ihn hier erwarten würde, was das überhaupt bedeutet hat, ein anderes Land, und niemanden kennen hier und nichts fassen können und nichts verstehen. Der Feri hat begonnen, sich zu schämen.
(S. 104-106)

Theodora Bauer wählt für ihre "Geschichte" den Erzählmodus der österreichischen Umgangssprache: im Perfekt wird erzählt und berichtet, was gerade passiert (ist), die Auswirkungen sind unmittelbar spürbar und die Leser*innen sind mittendrin im Geschehen.

Das Präteritum, die klassische Erzählzeit im schriftlichen Deutsch, ist jenen Passagen vorbehalten, in denen englischsprachige Figuren zu Wort kommen: Lily stand an der Kreuzung. Jenseits der viel befahrenen Straße lag Lincoln Park, noch weiter dahinter, kaum sichtbar von hier, der See. Sie steckte die Hände in ihre Manteltaschen. (S. 131). – Die Distanz, die Sprache schaffen kann, ist sofort spürbar.

Wer den  drei Migrant*innen – Feri, Ana, Kati oder doch Franjo, Katica und Anica? –  folgen will und nicht davor zurückscheut, sich auch auf die Untiefen ihrer Lebensgeschichten einzulassen, wird mit einem Lektüreerlebnis belohnt, das nicht nur die eigenen Sehnsüchte neu wachzurufen vermag, sondern auch im Blick auf die aktuellen Migrationsgeschichten neue Zugänge eröffnet.

Denn – so die Autorin Julya Rabinowich in der Tageszeitung "Der Standard": Erinnern wir uns. Flucht hat auch in Europa stattgefunden. Und zu allen Zeiten und in allen Räumen gilt in gleicher Weise: Wer flieht, wird auch leicht. Abgestreift alles, was verwurzelt. Die Haut dünnt aus, die Seele fedrig im schneidenden Wind. (Der Standard, Einserkastl, 15.10.2018)

 

Helene Thorwartl

 

Chikago von Theodora Bauer
(geb. 1990 in Wien)

 




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Theodora Bauer
geb. 1990 in Wien, lebt im Burgenland, Nominierung für den Burgenländischen Buchpreis 2018, Finalistin für den Literaturpreis Alpha 2018.
www.theodorabauer.at

(Foto: Paul Feuersänger)




 

 

 

 

 

 


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September 2018

 

 

Andrea Winkler:
Die Frau auf meiner Schulter
Wien: Zsolnay 2018.

Eine Frau außerhalb der gewöhnlichen Erreichbarkeit (S. 19), ein abgelegenes Dorf, die Natur im Lauf der Jahreszeiten ... Genug Stoff für einen Roman? Ja, und nicht nur das: darüber hinaus auch genau der richtige Rahmen, um ein Leben zur Sprache zur bringen, das vorübergehend zum Stillstand gekommen ist, oder, um es mit den Worten der Autorin zu sagen: um von Lebensläufen zu erzählen, die vorübergehend Rinnsale geworden sind (S. 101f.).

Die Autorin Andrea Winkler zeichnet in tagebuchartigen Aufzeichnungen, Traumnotizen und Briefen das Bild einer Frau, die es – buchstäblich – aus der Bahn geworfen hat: raus aus dem pulsierenden Leben der Großstadt, raus aus den gesellschaftlichen Bezügen, raus aus dem Halt gebenden Freundeskreis und raus aus Sinn stiftender Arbeit.

Was soll daraus werden? (S.7) – Mit viel Sprachwitz und Ironie bringt Andrea Winkler das „Aus-der-Zeit-gefallen-Sein“ ihrer Figur zu Gehör. Eine zufällige Begegnung auf einem winterlichen Spaziergang klingt dann etwa so:

Ein Mann blieb stehen und fragte mich, wo ich meine Langlaufskier vergessen hätte. Ich antwortete, zuhause, im Keller, bei Friedrichs Gehstöcken und Regenschirmen. „Sind Sie mit Friedrich verheiratet?“ – „Nein, Friedrich ist tot und hat sein Haus zu sehr geringer Miete Menschen überlassen, die nichts Besseres zu tun haben, als die Tage vergehen zu lassen, ohne sich durch besondere Werke in ihren Lauf zu mischen.“ – „Was muss man getan haben, damit einem dieses Glück zuteil wird?“ – „Zu viel vom Falschen.“ Der Mann lachte. Wenn das so ist, würde er gern einmal vorbeischauen, er sei erfahren auf diesem Gebiet. (S. 22)

Oder, einige Seiten weiter, die humorvolle Antwort auf die gefürchtete Frage „Was machen Sie hier?“:

Ich gehe spazieren, liege hier mit Ihnen und trinke am helllichten Tag Wein, ... Darüber hinaus denke ich darüber nach, wie die Nacht zum Tag wird, und schreibe manchmal auf, was ich träume, ... (S. 33)

Lamentieren über das eigene Schicksal sieht anders aus. Dagegen setzt Martha, so heißt die Protagonistin, auf Trotz und Beharrlichkeit: Ich setzte meinen Spaziergang fort und ging weiter wie ein Mensch, der fest entschlossen ist, sich unter allen Umständen an ein paar Regeln des Alltags zu halten. (S. 7)  „Aus der Zeit gefallen“, ja, aber „dennoch in ihr bleiben“ – so lautet die Devise, und unter Umständen dabei sogar ein paar besonders kräftige Wurzeln ausbilden.

Die Natur, in ihrem beständigen Kreislauf, kommt Martha in ihren Suchbewegungen entgegen und bildet auch den formalen Rahmen: Die Tagebucheinträge beginnen an einem 3. Jänner, mit Eis und Kälte, Stillstand und einem großen Schlafbedürfnis; und sie enden an einem 17. Juli, mitten in einem pulsierenden Sommer und mit dem Bild einer Barke, die es gilt – mit einem Stoß – auf die Reise zu schicken ...

Und wo bleibt die titelgebende Frau auf meiner Schulter? Sie entstammt einem merkwürdigen Traum (S. 13), sie ist schwer und leicht zugleich, es gilt sie zu trösten und fortzubringen von einem Ort, der sie zu überwältigen droht ... Lesen Sie sich mit Andrea Winkler durch Traum und Wirklichkeit und entdecken Sie jene leisen, oft unbewussten Wege, die unser Tun prägen und neu in Gang bringen können!

 

Helene Thorwartl

 

Die Frau auf meiner Schulter
von Andrea Winkler (geb. 1972
in Freistadt, lebt in Wien)

 




 

 

 

 

 

 

 

 

 




 

Foto: Kurt Hoerbst

Andrea Winkler lebt als freie Schriftstellerin in Wien.


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Sommer 2018

 

 

Katharina Hartwell: Das fremde Meer
Berlin: Berlin Verlag 2013.

Als Ausklang unseres Fernkurses "Ver-rückte Biographien. Mit vier Büchern durch Raum und Zeit" führt unser Lese-Tipp im Sommer durch ein Buch, das als literarisches Mosaik unterschiedlicher Gattungen und Formen noch einmal durch jene Genres – und viele mehr – führt, die im Rahmen des Fernkurses gelesen oder angedacht wurden.

Eine Liebe, viel zu groß, um Sie nur einmal zu erzählen – heißt es auf der Rückseite dieses Buches.

[E]ine Liebesgeschichte, die so groß und schön ist und so traurig endet, dass man sie wirklich mit allen Mitteln und Genres der Literatur zu retten versuchen muss – schreibt Maren Keller in einer Rezension im Spiegel Online.

Tatsächlich ist Das fremde Meer auch eine Liebesgeschichte, allerdings ganz ohne den hier anklingenden Kitsch und Pathos. Dies ist nicht nur auf Katharina Hartwells ausgefeilte, unprätentiöse, aber dennoch ausdrucksstarke, kraftvolle Sprache zurückzuführen, sondern auch auf die gekonnt entworfene Dramaturgie der Erzählung. Katharina Hartwell schreibt mit ihrem Romandebüt, das gleichzeitig auch ihre Abschlussarbeit am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig darstellt, keinen einfach gestrickten Liebesroman, sondern schafft ein einzigartiges Kaleidoskop an Geschichten und Genres, das sich über die Grenzen von Zeit und Raum hinwegsetzt. In episodenhaft angelegten Einzelgeschichten, die in unterschiedlichsten (Gegen-)Welten verortet sind, erzählt Katharina Hartwell die Geschichte von Maria und Jan.

Einstweilen ist das die Geschichte von Moira und Jonas, die sich in einer postapokalyptischen urbanen Welt wiederfinden, in der sich ganze Häuser und Menschen einfach in Luft auflösen. In der Wechselstadt tauchen die verschwundenen Gegenstände zwar stets wieder irgendwo auf, die Menschen aber bleiben für immer verschollen.

Ein andermal ist es die Geschichte von Augustine und Jacques im Pariser Salpêtrière des 19. Jahrhunderts, in dem sich die als Hysterie-krank erklärte Augustine, den medizinisch-voyeuristischen Blicken der männlichen Ärzte und Studenten ausgesetzt, eine zweite Identität schafft, um ihre Rolle in dem inszenierten Spektakel spielen zu können. Dann taucht jedoch plötzlich Jacques auf, mit dem sie schließlich gemeinsam aus der psychiatrischen Anstalt zu fliehen versucht.

Manchmal sind es Märchen von Prinzessinnen, die zu Ritter(inne)n werden und schlafende Prinzen retten. Manchmal sind es phantastische Erzählungen von Männern, die spurlos auf dem Meer verschwinden. Von Männern, die dem Tod begegnen. Stets wird dabei aus der Perspektive der weiblichen bzw. mit Maria assoziierten ProtagonistIn erzählt, die auch die Stimme der Rahmenerzählung prägt.
(Die Betonung liegt hier auf dem Binnen-I, denn Katharina Hartwell weiß die Grenzen von Geschlecht und Gender ebenso auszuloten wie jene von Genre und Gattung.)

Kunstmärchen. Dystopie. Ritterroman. Science Fiction. Historisches. Phantastisches. Realistisches. All das und mehr verquickt Katharina Hartwell nicht zu einem geschmacklosen, willkürlich zusammengepanschten Gemisch, sondern zu einem kunstvoll und wohlbedacht kombinierten Geflecht literarischer Vielfalt, das das Spiel mit Wiederholung und Variation meisterhaft beherrscht. Denn ja, immer wird "das Gleiche" erzählt. Gleichzeitig wird dieses Gleiche dabei so weit verfremdet und abstrahiert, dass es kaum als solches wiederzuerkennen ist. Lediglich einzelne Motive bleiben übrig, die sich wie ein sorgfältig verwobener Zopf aus roten Fäden durch die einzelnen Episoden schlängeln: Liebe. Tod. Vergänglichkeit. Fremdsein. Angst. Hoffnung. Rettung.

Erst am Ende erkennt man, was die Geschichten – abgesehen von den meist via Alliteration und Gleichklang verbundenen Protagonist*innen – miteinander gemeinsam haben. Wie laut Balzac jeder lebende Körper besteht Hartwells Roman aus unendlich vielen "Spektren", die in winzig kleinen Schuppen oder Blättchen schichtenförmig übereinanderliegen und ihn von allen Seiten einhüllen. (S. 461)

Das fremde Meer ist eine – beziehungsweise zehn – Geschichten von der Notwendigkeit zu erzählen und dem Versuch sich dem Unaussprechlichen anzunähern:

"Vielleicht werde ich verrückt", sage ich, weil ich in den letzten Tagen oft daran gedacht habe, an diese Möglichkeit, weil ich der Meinung bin, dass sich das Hier und Jetzt bei klarem Verstand nicht aushalten lässt. Vielleicht aber bin ich auch schon verrückt. In jenem Sinn des Wortes: Ver-rückt. Ich bin abgerückt von mir selbst. Ich stehe nicht mehr in, sondern neben mir, bin zu einer anderen Person geworden, die zwar meinen Namen trägt und in meinem Körper wohnt, mir aber eine Fremde ist. (S. 563)

Es sind zehn Geschichten von der Angst zu verlieren – die Liebe, das Leben, die Hoffnung. Und nicht zuletzt sind es zehn Geschichten, die die vielseitigen Möglichkeiten von Literatur und die Wirkungskraft unterschiedlicher literarischer Gattungen eindrucksvoll vor Augen führen.

 

Claudia Sackl


Hier geht es zu einem Porträt zu Katharina Hartwell von Dana Buchzik.

 

Das fremde Meer
von Katharina Hartwell (geb. 1984 in Köln, Deutschland)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ausgezeichnet mit dem Hallertauer Debütpreis 2013 und dem Förderpreis für phantastische Literatur "Seraph" 2014

 


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Juni 2018

 

 

Lars Schmeink: "Begrabene Riesen – Ging der Nobelpreis an einen Autor der Fantastik?"
In: TOR ONLINE vom 08.10.2017.

Anlässlich des aktuellen Fernkursheftes zur phantastischen Literatur, möchten wir hier noch einmal einen Diskurs rund um das Genre der Phantastik öffnen:

Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2017 an den britisch-japanischen Schriftsteller Kazuo Ishiguro löste im Feulliton und unter Leser*innen eine hitzige Diskussion darüber aus, ob denn nun sein letzter Roman, Der begrabene Riese (2015), als ein Werk der Phantastik – oder gar der Fantasy, was viele Kritiker*innen und Leser*innen noch vehementer verweigerten – zu bezeichnen sei. Denn ein Autor, der den Nobelpreis für Literatur bekommt, muss ja wohl mehr im Sinn [gehabt haben], als einen fantastischen Abenteuerroman zu schreiben (Johannes Kaiser, Deutschlandfunk). Überspitzt könnte man hingegen von der Gegenposition aus fragen:
Ist der Nobelpreis für Kazuo Ishiguro ein Nobelpreis für die Phantastik?

Vorausgeschickt sei an dieser Stelle eine kurze Begriffsklärung. Im Kontrast zur Phantastik (oder Fantastik), die als Oberbegriff für nicht-realistische Literatur all jene Texte umfasst, die nach Heinrich Kaulen sekundäre, transrationale, übernatürliche Handlungsdimensionen, die über unsere erfahrbare Alltagswelt und unser empirisch-rationales Bewusstsein hinausgehen, in ihre Erzählwelt inkorporieren, beschreibt die Fantasy (oder High Fantasy) á la J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe eine geschlossene sekundäre Welt, die mit unserer realistischen, empirisch-rationalen Welt im Text nicht zusammentrifft. In klassischer Fantasy spielt die Handlung also ausschließlich in einer (von übernatürlichen Elementen geprägten) Anderswelt.

Verortet in einem von magischen Geschöpfen, Geistern und Dämonen bevölkerten England des sechsten Jahrhunderts, folgt Kazuo Ishiguros Der begrabene Riese den Spuren eines alten Ehepaares, das aufbricht, um ihren Sohn zu finden, an den es sich nur dunkel erinnert. Denn es liegt ein Nebel über dem Land, der dessen Bewohner*innen alle Erinnerungen an ein wie auch immer geartetes Davor vergessen lässt. Später stellt sich schließlich heraus, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bürgerkrieg stattgefunden hat, den der Nebel aus dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft getilgt hat. Für Daniel Kehlmann steht diese metaphorische Bedeutung und die Frage, wie Gesellschaft mit Traumata umgeht, im Zentrum des Romans:

Der große Nebel war für sie kein Fluch, er hat ihnen vielmehr das Weiterleben ermöglicht; nur dadurch, dass sie die Schrecken, die sie ihren Nachbarn und diese ihnen angetan haben, völlig vergessen haben, war es ihnen möglich, nebeneinander weiterzuleben. Wird nun, da dieser Nebel sich lichtet, die Wahrheit sie frei machen, oder wird sie vielmehr neue Grausamkeiten, neues Blutvergießen und neue Schrecken bringen? [...] die Frage, ob eine Gesellschaft Täter lieber verfolgen oder vergessen und weitermachen soll, als wäre nichts geschehen, rückt plötzlich in den Mittelpunkt eines Romans, der doch gerade noch so weit entfernt von unseren Tagen zu spielen schien.
(Daniel Kehlmann, FAZ online)

Sozusagen als Antwort auf die Diskussionen rund um Ishiguros Der begrabene Riese, geht der Anglist und Germanist Lars Schmeink (Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg) in seinem Artikel „Begrabene Riesen – Ging der Nobelpries an einen Autor der Fantastik?“ den vielschichtigen Vernetzungen von Realismus und Phantastik in Ishiguros Roman auf den Grund und der Frage nach, auf welcher Basis denn nun ein Text dem phantastischen bzw. realistischen Genre zugeschrieben werden kann. Ganz zu Beginn steht dabei der alte Konflikt zwischen Phantastik (v.a. Fantasy) und sogenannter „Hochliteratur“, wobei dem Verständnis der letzteren immer auch eine vermeintlich höhere literarische und ästhetische Qualität immanent ist:

Mit Kazuo Ishiguro hat jetzt ein Autor den Nobelpreis gewonnen, bei dem es wieder zu fragen gilt: Fantastik oder Hochliteratur? Oder beides? (Lars Schmeink, TOR ONLINE)

In diesem Nachsatz, Oder beides?, klingt schon an, was im Laufe des Artikels schrittweise herausgearbeitet wird: Phantastik und sogenannte „Hochliteratur“ müssen einander keinesfalls ausschließen. Gleichzeitig zeigt Schmeink, dass sich paradoxerweise auch Realismus und Phantastik nicht immer ausschließen müssen, weisen doch viele Texte, die phantastische „Oberflächenelemente“ besitzen, auch eine realistische Tiefenstruktur auf. So auch Kazuo Ishiguros Der begrabene Riese, was ihn jedoch nicht weniger phantastisch (im Sinne der Genrebezeichnung) macht. (An dieser Stelle sei auch an den Lese-Tipp vom Mai, Jesmyn Wards Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt [siehe weiter unten], verwiesen, der übernatürliche Elemente mit einem schonungslosen Realismus kombiniert.)

Denn Phantastik und Fantasy gehen in vielen Fällen durchaus über den Selbstzweck einer sekundären Welt hinaus und verpacken Konkretes in Abstraktem, wodurch dem Konkreten eine gewisse Allgemeingültigkeit bzw. Universalität zugesprochen wird. Kazuo Ishiguro selbst sagt über seinen Roman:

Ich wollte so etwas wie ein Volksmärchen erzählen, das sich auf viele unterschiedliche Situationen anwenden lässt. Ich wollte damit andeuten, dass es etwas ist, mit dem die Menschen schon immer in ihrer Geschichte gekämpft haben. Darum hat mich diese alte Fantasiewelt gereizt. Den Menschen wird dadurch klar, dass die Oberfläche der Geschichte nicht so wichtig ist.
(zitiert in: Johannes Kaiser, Deutschlandfunk)

Rhetorisch geschickt stellt Lars Schmeink in seinem Artikel die zwei gegensätzlichen Positionen der gängigen Diskussion gegenüber, die Kazuo Ishiguro einerseits als Fantasten und andererseits als postmodernen Literaten zeichnen: Ist Ishiguro nun ein Phantastik-Autor, weil Magie in seinem Roman vorkommt, oder vielleicht auch einfach weil Leser*innen seinen Roman als Phantastik lesen? Oder spielt er gemäß eines postmodernen Verständnisses von Literatur mit Versatzstücken der Fantasy und allem, was sonst noch so literarisch möglich ist? Dabei thematisiert Schmeink auch ganz grundlegende Fragen der Genre-Theorie, unter anderem die Leitfrage, wie Genres denn überhaupt definiert werden können: über textimmanente Elemente oder aus soziologischer Perspektive, die "Genre" nicht als ein prototypisches Motivinventar betrachtet, sondern vielmehr als eine Art Vertrag zwischen Autor*innen und Leser*innen, der bestimmte Erwartungen und Haltungen an das Buch festlegt? Die beiden angesprochenen Oppositionen lässt Schmeink am Ende insofern ineinander aufgehen, als dass er beiden eine gewisse Legitimität zuspricht. Ishiguros Roman, so schreibt er, fordert in jedem Fall beide Leser*innen heraus – sowohl jene der Phantastik, als auch jene sogenannter „Hochliteratur“.

 

Claudia Sackl

Hier geht es zum Volltext des in dem Phantastik-Magazin TOR ONLINE (Teil der S. Fischer Verlage) erschienenen Artikels „Begrabene Riesen – Ging der Nobelpries an einen Autor der Fantastik?“ von Lars Schmeink.

 

 


 

Kazuo Isiguro: Der begrabene Riese. Aus dem Engl. v. Barbara Schaden. Heyne Verlag 2016. [Taschenbuch]

 


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Mai 2018

 

 

Jesmyn Ward:
Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker.
München: Kunstmann 2018.

Die letzten beiden Lesetipps umfassten Bücher, die sich mit möglichen Zukunftsentwürfen unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Dass aber auch zeitgenössische Lebensrealitäten dystopischen Charakter haben können, zeigt Jesmyn Wards Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (Original: Sing, Unburied, Sing), dessen apokalyptische Atmosphäre bereits von mehreren Kritiker*innen hervorgehoben wurde. In ihrem neuen Roman, der ebenso wie ihr letzter Titel mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, folgt die afroamerikanische Schriftstellerin den Spuren einer 'mixed-race' Südstaatenfamilie, die sich durch Rassismus, Krankheit, Drogenkonsum und Armut langsam aber sicher zersetzt. Charakteristisch für Wards Text, der sich sowohl durch seine politische Aktualität als auch seine historische Tiefe auszeichnet, ist sein intensiver, schonungsloser Realismus, der sich in einer bildgewaltigen, metaphernreichen Sprache niederschlägt und mit magisch-mystischen Elementen durchsetzt ist. Denn Ward lässt in ihrem Text bereits verstorbene Charaktere nicht nur als Figuren, sondern auch als Ich-Erzähler auftreten, die die ProtagonistInnen (nach kurzer anfänglicher Irritation) ganz selbstverständlich in ihre erfahrbare Wirklichkeit integrieren. Auch in der aktuellen Lektüre unseres Fernkurses "Ver-rückte Biographien" werden die Grenzen von Sterben und Tod mithilfe avancierter technischer Verfahren ausgelotet, um die Endlichkeit des Lebens hinauszuzögern. Auf ähnliche Weise bewegt sich Jesmyn Ward in ihrem Text über die Grenzen der Sterblichkeit hinaus, bedient sich dabei jedoch gänzlich anderer erzählerischer Mittel als Don DeLillo in seinem an Science-Fiction-Literatur angelehnten Roman Null K.

Das Genre des magischen Realismus hat vor allem in nicht-westlichen Literaturen wie jenen aus Lateinamerika oder Afrika, wo das, was aus westlicher Perspektive als 'übernatürlich' oder 'magisch' bezeichnet wird, vielerorts in das alltägliche Leben und das allgemeine Verständnis von Realität integriert ist, lange Tradition. Demgemäß ist es also nicht überraschend, dass zahlreiche zeitgenössische afroamerikanische Autor*innen auf eine solche Synthese aus Magie und Realität zurückgreifen, um ihre Geschichte(n) und jene ihrer Vorfahren zu erzählen. Colson Whitehead beschreibt in seinem vielfach ausgezeichnetem Underground Railroad beispielsweise ein historisch belegtes Netzwerk von Abolitionisten, das den in den USA in Sklaverei Gefangenen bis zum Bürgerkrieg half, in andere Länder zu flüchten, und imaginiert es mit den Mitteln des magischen Realismus als tatsächliche geheime Tunnelsysteme, die die gesamte USA im Untergrund durchziehen. Die ghanaisch-US-amerikanische Schriftstellerin Yaa Gyasi wiederum folgt in Heimkehren den Spuren des westafrikanischen Sklavenhandels und den dadurch aufgerissenen Wunden, die bis ins moderne Amerika reichen, wo ihre Charaktere mit mythischen Figuren interagieren. Die rationale Wirklichkeit, die in Texten wie diesen mithilfe irrealer Elemente verfremdet wird, geht dabei in einem 'mystischen' Erzählen auf, das für Autor*innen wie Colson Whitehead, Yaa Gyasi und letztlich auch Jesmyn Ward jedoch nicht weniger 'realistisch' ist – wie in Interviews mit ihnen (siehe unten) nachzulesen ist.  

Erzählt wird in Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt zunächst aus zwei, später dann aus drei Ich-Perspektiven: Leonie, die als 17-Jährige schwanger wurde, drogenabhängig ist und nach wie vor schmerzhaft mit ihrer Mutterrolle zu kämpfen hat, lebt mit ihrer Familie zwar im selben Haus, wirkt jedoch fast wie ein Fremdkörper in dem sonst so liebevollen Gefüge. Ihr 14-jähriger Sohn Jojo sorgt an ihrer statt für seine kleine Schwester Kayla, beide haben sie eine besondere Beziehung zu ihren Großeltern Pop und der krebskranken Mam. Auf dem Road Trip, auf den sich Leonie, Jojo und Kayla begeben, um den weißen Vater aus Parchman, dem staatlichen Gefängnis, abzuholen, werden gewohnte Grenzen porös, wenn das Innere wiederholt nach außen gekehrt wird und die Toten im Leben allgegenwärtig sind. Mit dieser Ausfahrt schließt sich zudem ein Generationenkreis, denn schon der Großvater Pop musste auf der (tatsächlich existierenden) Parchman Farm als Teenager – so wie zahlreiche andere Afroamerikaner – aufgrund geringfügiger Vergehen auf den Baumwoll- und Melonenplantagen in der glühenden Hitze von Mississippi und unter der gewaltvollen Führung der (weißen) Wärter jahrelange Zwangsarbeit leisten. In Kursivpassagen erzählt Pop von Richie, einem kleinen, mageren Jungen, der eines Tages plötzlich verschwand. Er wird dem adoleszenten Ich-Erzähler Jojo schließlich als heimgesuchte Seele erscheinen und sich nach dem Gefühl des Zuhause-Seins in einem Jenseits sehnen, das sich jeglicher Räumlichkeit entzieht und den Leitmotiven des Wassers und der Vögel folgt (siehe Cover).

Im Kontrast zu dieser abstrakten, symbolischen Ebene des Romans, die sich auch in der Spiritualität von Jojos Großeltern wiederspiegelt, steht das räumlich wie geographisch konkrete Mississippi, das man durch Wards bildliche Sprache förmlich sehen, riechen und schmecken kann. Als eine Region, wo Rassismus und Segregation besonders tief verwurzelt sind, wird es zu einem Ort, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderlaufen und die Vergangenheit in regelmäßigen Schüben aufstößt. In der fiktiven Kleinstadt Bois hat die Familie Rivers mit Problemen zu kämpfen, die für den Bundestaat Mississippi, der eine der höchsten Arbeitslosenraten sowie Todeszahlen durch Drogenüberdosis in den USA aufweist, beispielhaft sind. Der moderne Süden der USA wird so zu einem kontaminierten, gezeichneten Ort, der sowohl die Lebenden als auch die Toten vergiftet:

Das hier ist kein guter Ort, für keinen. Egal, ob Schwarz oder Weiß. Macht keinen Unterschied. Das hier ist ein Ort für Tote. (S. 108).

Im Zentrum des Romans stehen aber nicht nur die von Ward präzise diagnostizierte strukturelle und gesellschaftliche Benachteiligung und Perspektivenlosigkeit, sondern auch die individuellen, nie verheilten Verlusterfahrungen der einzelnen Figuren. Die individuelle Biographie wird dabei politisch aufgeladen und psychologisiert. Das mündliche Erzählen sowie Jesmyn Wards eigenes literarisches Schreiben wird zur politischen Handlung – selbst wenn es manchmal Lieder ohne Worte (S. 254) sind, die sie ihre Lebenden und ihre Toten singen lässt.

 

Claudia Sackl

Interview mit Jesmyn Ward zu Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (englisch)
Interview mit Colson Whitehead zu Underground Railroad (deutsch)
Interview mit Yaa Gyasi zu Heimkehren (englisch)

 

Singt, ihr Lebenden und ihr
Toten, singt

von Jesmyn Ward (geb. 1977 in DeLisle, Mississippi, USA)

 

 

 

 

 

 

 

Colson Whitehead:
Underground Railroad

Aus dem Amerikan. von Niklaus Stingl. München: Hanser 2017.


Yaa Gyasi: Heimkehren
Aus dem Amerikan. von Anette Grube. Köln: Dumont 2017.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


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April 2018

 

 

Chimamanda Ngozi Adichie: Liebe Ijeawele ...
Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden.
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2017.

Lässt sich eine gerechtere, eine bessere Welt erschreiben? Literatur hat jedenfalls schon immer versucht, unsere Welt in eine mögliche Zukunft fortzuschreiben, und dabei sowohl utopische als auch dystopische Gesellschaften entworfen.

Margaret Atwood beispielsweise entwirft in ihrem Roman Der Report der Magd – die aktuelle Lektüre unseres Fernkurses "Ver-rückte Biographien" – ein düsteres Zukunftsbild. Frauen sind in dieser fiktiven Welt streng kategorisiert und weitgehend ihrer Selbstbestimmung beraubt. Dazu gehört, dass Lesen und Schreiben für sie verboten sind; der Alltag wird mittels Bilder und Symbolkärtchen geregelt.

Auch die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie greift in ihren Texten immer wieder die Situation von Frauen auf und denkt sie in die Zukunft weiter. Berühmtheit erlangte sie durch ihren TED-Talk "We should all be feminists" (deutsch: "Mehr Feminismus!"), in dem sie gesellschaftliche Vorgänge analysierte und öffentlichkeitswirksam einen Feminismus für alle einforderte.

In dem vorliegenden schmalen Büchlein wählt sie hingegen einen leiseren Weg: Aus dem Blickwinkel einer Mutter und Freundin schreibt sie einen persönlich gehaltenen Brief an ihre Freundin Ijeawele, die gerade ihre Tochter geboren hat: "Liebe Ijeawele ..." .  Es geht um die Zukunft dieses neugeborenen Mädchens Chizalum, sie soll in eine gerechtere Welt – für Frauen und Männer – hineinwachsen. Adichie skizziert ein positiv gestimmtes und hoffnungsvolles Zukunftsbild und unterbreitet ihrer Freundin 15 Vorschläge für diesen Weg:

Darunter solche, die uns nur allzu selbstverständlich erscheinen – auch wenn Atwoods Roman noch nachwirkt – wie: Fünfter Vorschlag. Bring Chizalum das Lesen bei. Doch was ist mit dem nächsten? Sechster Vorschlag. Bring ihr bei, Sprache zu hinterfragen. Zum Beispiel: gängige Redewendungen, Anreden, alltägliche Praktiken – aber vor allem die eigene Sprache.

Manche Aussagen „verrücken“ die europäischen Leser*innen in den nigerianischen Alltag, wenn etwa von einem bekannten Igbo-Scherz die Rede ist, mit dem kindische Mädchen verspottet werden: Was tust du da? Du bist alt genug, um einen Mann zu finden. (S. 38) oder wenn die Autorin die schmerzhafte Prozedur anspricht, mit der den Mädchen die krausen Haare geglättet werden: Sie wird begreifen, [...] dass glattes und schwingendes Haar als schön gilt, Haar, das nach unten hängt, und nicht Haar, das absteht. (S. 60) Auch der Hinweis, dass viele Mädchen vom Gedanken ans Heiraten geradezu besessen sind und deshalb öffentlich um einen Mann streiten, wird so manchen Leser*innen in Europa vielleicht überholt vorkommen ...

Dann wieder trifft Adichie punktgenau jene Bruchlinien, die auch unseren westlichen, scheinbar emanzipierteren Lebensalltag durchziehen – auch jenen von äußerst erfolgreichen, selbstbestimmten Frauen. Hillary Rodham beispielsweise, die nach ihrer Heirat mit Bill Clinton 1975 zunächst ihren Namen behielt, dann aber allmählich seinen Namen "Clinton" an ihren eigenen anfügte und schließlich aufgrund politischen Drucks ihren Namen "Rodham" wegließ, um den Wahlerfolg ihres Mannes nicht zu gefährden. (Vgl. S. 43f.) Oder Theresa May, die britische Premierministerin. Eine britische Zeitung beschrieb ihren Mann folgendermaßen: Philip May ist in der Politik bekannt als ein Mann, der sich im Hintergrund hält und seiner Frau Theresa gestattet, im Rampenlicht zu stehen. (S. 30) "Gestattet" – so fragt Adichie, würde man das auch über die Ehefrau eines in der Politik aktiven Mannes so formulieren?

Liebe Ijeawele ... ist ein scharfsichtiger und dennoch liebevoller Brief, der über räumliche und kulturelle Grenzen hinweg Gewohntes und Eingefahrenes in neuem Licht sehen lässt, den Blick für die noch immer vorhandenen Schieflagen zwischen Frauen und Männern wachhält und die Solidarität stärkt.

"Hätte ich diesen Brief doch schon in meiner Schulzeit in die Hände bekommen!" – so eine Leserin ...

 

Helene Thorwartl

Leseprobe aus "Liebe Ijeawele ..."
TED-Talk "We should all be feminists"

 

Liebe Ijeawele ...
von Chimamanda Ngozi Adichie
(geb. 1977 in Nigeria, lebt
in Lagos und den USA)

 

 

Chimamanda Ngozi Adichie: Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories
Aus dem Engl. v. Anette Grube. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2016.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 



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März 2018

 

 

Nnedi Okorafor: Lagune
Aus dem Englischen von Claudia Kern.
Ludwigsburg: Cross Cult 2014.

Lagos, Nigeria. Außergewöhnliches, ja, Außerirdisches tut sich in der küstengelegenen Hauptstadt Nigerias. Ein Meteorit stürzt ins Meer und eine Flutwelle über die Strände Lagos‘. Im Ozean tummeln sich Geschöpfe, die nicht von dieser Welt sind, vernichtende Energiewellen durchzucken die Metropole, moderne, technologische Geräte versagen. Es sind aber nicht nur ungewöhnliche Dinge, die in diesem Roman geschehen, es sind auch ungewöhnliche Erzählstimmen, die darüber berichten. Die Geschichte setzt ein viele Meter unter dem Meer, mit der Innenperspektive eines Schwertfisches. Schon bald darauf werden die drei ProtagonistInnen Adaora, Agu und Anthony – drei fremde Personen: eine Meeresbiologin, ein Soldat und ein Rapper – plötzlich zu Vermittler*innen zwischen den Erdenbewohner*innen und ihren Besucher*innen.

Nnedi Okorafors 2014 im Original unter dem Titel Lagoon erschienener Roman ist jedoch viel mehr als spannende Science-Fiction. Es ist ein kulturelles und sprachliches Kaleidoskop eines pulsierenden, diversen Lagos, das so zeitgenössisch wirkt, dass es zunächst kaum futuristisch scheint. Es ist ein Mosaik aus Kurzkapiteln, die nicht nur den drei menschlichen ProtagonistInnen, sondern auch mythologischen Trickster-Figuren und afrikanischen Folklore-Elementen folgen. Es ist eine Erzählung von einer (scheinbaren) Apokalypse, die in Afrika verortet und in der der nigerianische Präsident zum Vertreter und Sprachrohr der Menschheit wird. Erfrischend, denn wie die Hollywood-geprägte Vorstellung besagt:

Wenn es Außerirdische gab, dann würden sie sicherlich nicht nach Nigeria kommen. (S. 69)

Es ist ein Roman, der zeigt, dass Science-Fiction und spekulative Literatur keinesfalls apolitisch sein müssen, wenn er von einer (tatsächlichen) Apokalypse – die Ausbeutung der Erde durch das Bohren nach Erdöl – erzählt, die eigentlich schon lange begonnen und den Planeten kurz vor seinen Untergang geführt hat:

„Letzte Nacht“, sagte der Präsident im Standard-Englisch, „hat sich unsere größte Stadt selbst verzehrt. Nun ist sie satt und kann sich selbst erneut gebären.“ (S. 330)

Es ist eine Geschichte, in der die Ankunft, Philosophie und vor allem Technologie der „Aliens“ die Möglichkeit eines neuen Anfangs in sich bergen. Dass Nnedi Okorafor dabei auf die menschliche Evolution rekurriert, wenn die „Außerirdischen“ aus dem Wasser schreiten und dabei ihre äußerliche Gestalt den sie umgebenden Menschen anpassen – also langsam Mensch werden –, ist nur einer der vielen Kunstgriffe, die der nigerianisch-amerikanischen Schriftstellerin in ihrem bemerkenswerten Text gelingen.

Afrofuturismus

Nnedi Okorafors Roman Lagune gilt als Vertreter eines panafrikanischen ästhetischen Phänomens, das in Literatur- und Kulturwissenschaft als Afrofuturismus bezeichnet wird. Der bereits 1993 von dem Literaturkritiker Mark Dery geprägte Begriff beschreibt jedoch nicht nur literarische Werke, sondern ist als transmediales Phänomen zu begreifen, das auch andere Kunstformen wie Musik, Film, Mode und Architektur umfasst und zukünftige Welten und futuristische Geschichten entwirft. Jochen Dreier versucht sich in seinem umfassenden Artikel „Afrofuturismus: Widerstand gegen eine weiße Zukunft“ auf Deutschlandfunk Kultur an das Phänomen anzunähern, seinen Ursprüngen auf den Grund zu gehen und aktuelle Stimmen von Literaturwissenschafter*innen und Autor*innen zu Wort kommen zu lassen.

Diese betonen zumeist, dass Afrofuturismus nicht einfach als direkte Weiterentwicklung amerikanisch-westlicher Science-Fiction, sondern als eigenständige Entwicklung zu betrachten sei. Als eine Entwicklung, die nicht nur als Reaktion auf westliche Zukunftsentwürfe gelten soll, also nicht auf das ihr eingeschriebene politische Programm reduziert werden möchte, sich aber durchaus als Widerstandsbewegung, aus der sich eine Methodik heraus entwickelt hat (Peggy Piesche) begreift. Genauer gesagt als Widerstand gegen die Bilder von einer weißen Zukunft, einer weißen Geschichte und einer weißen Macht über den schwarzen Körper (Jochen Dreier). In seinen literarischen Ausprägungen kombiniert Afrofuturismus Elemente der Science-Fiction, der historischen Literatur, der spekulativen Literatur, der Phantastik und des magischen Realismus mit nicht-westlichen Vorstellungen und Folklore. Es ist ein Neu-Imaginieren von Vergangenheit und Spekulieren über die Zukunft mit kulturkritischem Blick, das Nnedi Okorafor in ihrem TED-Talk Sci-fi Stories That Imagine a Future Africa auf eindrückliche Weise zugänglich macht.

 

Claudia Sackl

Artikel von Jochen Dreier: Afrofuturismus: Widerstand gegen eine weiße Zukunft
TED-Talk von Nnedi Okorafor: "Sci-fi Stories That Imagine a Future Africa"

 

Lagune
von Nnedi Okorafor
(geb. 1974 in Cincinatti, Ohio,
lebt in New York und Illinois)

 

 

 

 

 

 

 

Englisches Original von Lagoon. Hodder & Stoughton, 2014.

 

 

 

 

Literarischer Afrofuturismus:
Nnedi Okorafor (USA, Nigeria)

 

Musikalischer Afrofuturismus: Janelle Monáe (USA)
(c) Future Image

 

 

 



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Februar 2018

 

 

Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt
Graz, Wien: Droschl 2017.

Manchmal ist die Vergangenheit – wie in Natascha Wodins Sie kam aus Mariupol (Lesetipp Jänner 2018) – verloren und verschüttet. Und es bedarf einer geduldigen Spurensuche, um aus einzelnen Mosaiksteinchen und Erinnerungssplittern die Lebensgeschichte der Vorfahren – und in der Folge die eigene Identität – neu zu (er-)schreiben.

Manchmal ist die Vergangenheit aber auch – wie in Laura Freudenthalers Roman – so schmerzhaft präsent und übermächtig, dass sie verdrängt, verschwiegen und zum Verstummen gebracht werden muss. Über gewisse Dinge spricht man nicht (S. 10) – Das ist einer der Standardsätze von Fanny, der Protagonistin dieses Buches, mit der sie die kindliche Neugier ihrer Enkelin abwehrt.

Die Königin schweigt – Nicht umsonst erinnert der Titel dieses Buches an ein Märchen. Fanny, die vom Schicksal immer wieder hart getroffene Frau, will sich nicht erinnern, nicht an die Kindheit auf dem elterlichen Hof in den 1930er Jahren, nicht an ihr junges Erwachsenenleben als Schulmeisterin in einem kleinen Dorf. Und so hat sie aus ihrer Vergangenheit eine Märchenwelt gemacht, die sie ihrer Enkelin in Form von Geschichten erzählt: die Königingeschichte, die Schulmeistergeschichte, ...

Im Alter allerdings verschafft sich die Vergangenheit zunehmend Gehör, die Erinnerungen spülen herauf, in Wachträumen, in schwachen Momenten, in zunehmender Müdigkeit. Da kann es passieren, dass Fanny die Kontrolle über ihr Gedächtnis verliert:
Das stille Land war plötzlich voller Geräusche, es schwirrte in den Ohren. Fanny wusste, das war die Vergangenheit, die noch immer in der Luft lag. (S. 194)

Die Enkelin schenkt ihr ein Buch mit leeren Seiten, zum Aufschreiben ihrer Erinnerungen. Nicht deine Märchen aus dem Dorf, hatte sie gesagt. Die wirkliche Vergangenheit (S. 10). Doch die Seiten bleiben leer. Die Königin schweigt – Aus Stolz? Aus Anstand? Aus Unfähigkeit? Als lebensrettende Maßnahme? Um Halt zu finden?

Im Postkasten fand Fanny eine Karte, die die Enkeltochter geschickt hatte. [...] Fanny legte die Postkarte zu den anderen. Sie bewahrte sie in dem Buch mit den leeren Seiten auf, das die Enkeltochter ihr geschenkt hatte. Nur auf der ersten Seite stand etwas geschrieben, in derselben Handschrift wie auf den Postkarten. (S. 205)

Laura Freudenthaler hat das Buch ihren „Vorfahrinnen“ gewidmet. Doch es bleibt – letztlich wie bei Natascha Wodin – Aufgabe der Nachfahrinnen, die Lücken zu füllen und die eigene Vergangenheit je neu zu erschreiben. Fazit: Geschichte ist eigentlich immer nur in Form von Geschichten zu haben.

 

Helene Thorwartl

Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2018.
Lesungstermine im Frühjahr 2018.

 

Die Königin schweigt
von Laura Freudenthaler
(geb. 1984 in Salzburg,
lebt in Wien).


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Jänner 2018

 

 

Natascha Wodin im Diskurs: "Ich wollte immer Deutsch sein"
Natascha Wodin im Interview mit Katrin Wenzel (mdr)

»Eigentlich, glaubte Natascha Wodin, gehöre ihre Familie einer Art "Menschenunrat" an, der Zwangsarbeiter. Doch Wodins Mutter hatte als junges Mädchen den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror miterlebt.« (mdr)

In dem ersten Leseheft unseres im Jänner 2018 gestarteten Fernkurs für Literatur "Ver-rückte Biographien. Mit vier Büchern durch Raum und Zeit" beschäftigen wir uns mit dem Buch Sie kam aus Mariupol von der deutsch-russisch-ukrainischen Schriftstellerin Natascha Wodin, die dafür den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 (Kategorie Belletristik) erhielt. In Ihrem Text versucht sie, die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu rekonstruieren und bewegt sich dabei auf der schmalen Grenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion, zwischen autobiographischem und romanhaftem Schreiben.

In dem am 4. März 2017 im deutschen Rundfrunksender mdr ausgestrahlten Interview mit Katrin Wenzel erzählt sie von ihrem Versuch, dieser Geschichte eine angemessene Form zu geben. Sie berichtet von ihrer Kindheit in Deutschland, die geprägt war von ihrem sprachlichen und kulturellen Dazwischen und von dem Rätsel um die Biographie und Identität ihrer Mutter. Vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution publiziert sie 2017 ihr Buch Sie kam aus Mariupol, in dem sie die von politischen Umwälzungen geprägte Vergangenheit ihrer Familie analytisch "wie [in] ein[em] Krimi" (Katrin Wenzel) aufrollt. Von besonderer historischer Relevanz ist dieses literarische Werk, das sich auch mit den Zwangsarbeiter*innen beschäftigt - Schicksale, von denen wir heute aufgrund der fehlenden Dokumentation und den kaum existenten Erinnerungs- und Textzeugnissen viel zu wenig wissen. In dem Interview erzählt sie davon, wie es dazu kam, dass Millionen Menschen, darunter zahlreiche Ukrainer und Ukrainer*innen, zu Zwangsarbeitern wurden, und von ihrem Leben in "Nicht-Existenz" (Natascha Wodin) danach.

 

Claudia Sackl

Jurybegründung: Preis der Leipziger Buchmesse 2017 in der Kategorie Belletristik
Lesungen: Frühjahr 2018 in Deutschland

 

Natascha Wodin auf der
Leipziger Buchmesse 2017

www.commons.wikimedia.org

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Natascha Wodin:
Sie kam aus Mariupol
.
Reinbek: Rowohlt 2017.

 

 

   

"Geschichte in Geschichten" - Bücherliste

Der österreichische Büchereiverband (BVÖ) hat im Rahmen seiner Aktion "Geschichte in Geschichten" auch eine umfangreiche Bücherliste zum Thema erstellt: Bücher also, die historische Ereignisse literarisch verarbeiten oder aber auch als Sachbuch aufbereiten.

Sie finden dort eine breite Palette an Autorinnen und Autoren, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Thema "Geschichte" auseinandersetzen: fiktionale Annäherungen und sachliche Versuche; österreichische Gegenwarts- sowie Kinder- und Jugendliteratur; einmal mit Blick auf die großräumigen Entwicklungen von Staaten und Ländern, einmal mit Blick auf außergewöhnliche individuelle Schicksale.

Unter den ausgewählten Autor*innen befinden sich unter anderem:

  • Luna Al-Mousli
  • Birgit Antoni
  • Laura Freudenthaler
  • Niki Glattauer
  • Nina Horacek
  • Verena Hochleitner
  • Heinz Janisch
  • Nermin Ismail
  • Nadine Kegele
  • Anna Mitgutsch
  • Oliver Rathkolb
  • Bernd Schuchter
  • Kathrin Steinberger
  • Rachel van Kooj
  • Simon Usaty

Wer - angeregt durch Natascha Wodins Buch Sie kam aus Mariupol - weitere (literarische) Spurensuchen erkunden und erlesen möchte, wird hier sicher fündig werden:
Bücherliste zu "Geschichte in Geschichten"

 

 

Leseförderungsprojekt
des BVÖ


 

 

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