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Nava Ebrahimi: Sechzehn Wörter Sechzehn persische Wörter bilden die Überschriften der einzelnen Kapitel dieses Buches: Maman-Bozorg, Kos, Khastegar, Narmkonande, Ezafebar, Azadi, etc. Eine unmittelbare Übersetzung folgt NICHT. Über Fremdheitserfahrungen muss deshalb explizit nicht mehr geschrieben werden, denn die Fremdheit und Unzugänglichkeit ist bei der Lektüre immer schon präsent. Die sechzehn Begriffe entziehen sich einer einfachen Übersetzung; doch sie entfalten sich in Geschichten, Gefühlen, Gerüchen oder Klängen. Die Autorin schreibt deshalb sechzehn Kapitel um diese Wörter „herum“ und eröffnet so einen „Bedeutungsraum“, der die Leserinnen und Leser in den iranischen Lebensalltag, in Landschaften, in das soziale Miteinander und in die Beziehungen von iranischen Frauen eintauchen lässt. Jedes Kapitel ist damit aber auch ein lustvolles Rätselspiel, in dem sich erst allmählich „Verstehen“ einstellt. Die Ich-Erzählerin Mona, durch und durch in ihrem deutschen Leben verwurzelt, begibt sich für das Begräbnis ihrer Großmutter auf eine Reise in den Iran und wird dabei mit jenem (persischen) Anteil ihrer Identität konfrontiert, den sie im Alltag gerne ausblendet: Regelmäßig war ich ihnen ausgeliefert, diesen [persischen] Wörtern, die nichts mit meinem Leben zu tun hatten, nichts mit der Art, mit der ich täglich das Fahrradschloss öffne, nichts damit, wie ich im Restaurant Essen bestelle oder im Frühling Winterkleidung verstaue. Nichts hatten sie mit meinem Leben zu tun, trotzdem, oder gerade deshalb brachten sie mich immer wieder in ihre Gewalt. (S. 7) Auf ihrer Reise beginnt Mona, ihre iranischen Wurzeln genauer anzuschauen. Die verdrängten Wörter verlieren dabei ihre Macht über sie; ja ganz im Gegenteil: sie werden zu "Türöffnern" in eine widersprüchliche iranische Lebenswelt, von der sich humorvoll und ohne Wertungsanspruch erzählen lässt. Repressalien und unbeschwerte Fröhlichkeit bestehen nebeneinander, ebenso Sinnlichkeit und Scham, Distanz und Intimität, oder – in der Figur der Großmutter – ein loses, ordinäres Mundwerk und eine tief verborgene Lebenslüge ... Die sechzehn Wörter ermöglichen Annäherung und schaffen eine Form der "Verbundenheit", doch eine gewisse "Unübersetzbarkeit" zwischen den Welten bleibt bestehen. Jede und jeder, der an zwei Orten zuhause ist oder zwei Sprachen (oder auch nur Dialekte) spricht, kennt wohl die damit verbundenen Fremdheitserfahrungen, das Sich-nicht vollständig-erklären-Können ... Es bleibt schwierig, auf der einen Seite von der anderen zu erzählen. Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in Deutschland und lebt heute in Graz. Im November 2017 erhielt sie für ihr Werk den österreichischen Buchpreis Debüt.
Helene Thorwartl Jurybegründung: Buchpreis Debüt 2017. |
Nava Ebrahimi: |
November 2017
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Elvira Dones: Hana Elvira Dones wurde 1960 in Durres geboren und wuchs im kommunistischen Albanien auf. Sie studierte in Tirana albanische Literatur und Anglistik. Ihre berufliche Karriere führte sie auch in den Westen, von wo sie eines Tages nicht mehr zurückkehrte und daher in Abwesenheit wegen Landesverrates verurteilt wurde. Ihren zurückgelassenen Sohn durfte sie erst wieder nach Zusammenbruch des Regimes 1992 sehen. Sie hat die Schweizerische und amerikanische Staatsbürgerschaft, schrieb ihre ersten Romane auf Albanisch, nun auf Italienisch, das Tessin ist ihr Lebensmittelpunkt. Die Heldin Hana im gleichnamigen Roman (2017) wächst im Norden Albaniens, einer kargen Gegend, auf. Da ihre Eltern bei einer Busfahrt zu einer Hochzeit in der Stadt ums Leben kommen und sie Vollwaise wird, nimmt sie der Onkel Gjergj auf, der selber keinen Sohn hat. Die von ihm vorgeschlagene Ehe schlägt sie aus und legt das Gelübde ab, bis ans Lebensende als Mann und jungfräulich zu leben – ein Teil des Ehrenkodex, der im Norden des Landes üblich ist. In der Rolle des Mannes verrückt sich ihr Status. "Sie" ist Familienoberhaupt, d.h. "sie" darf Entscheidungen treffen, Land kaufen, sich und die Familie verteidigen, bis hin zum Töten. Diese Rolle ist Hana lieber. [D]enn der Frau bleibt nur der Gehorsam. Und der fällt ihr schwer. Als der Onkel verstirbt, übersiedelt sie in die USA, wo ihre Kusine mit Familie schon lange lebt. Dort erst wird ihr bewusst, wie anders sie ist, und die Geschlechterfrage wird zur wahren Identitätsfrage, als sie einen Mann kennenlernt. Eine feste Konstante spielt die Literatur, die dem Roman eine prosaische Note verleiht. Der Dokumentarfilm Sworn Virgin (Regie: Laura Bispuri), der auf dem Roman Hana basiert, wurde mit Alba Rohrwacher in der Hauptrolle 2015 bei der Berlinale uraufgeführt und u. a. in New York ausgezeichnet.
Martina Lainer |
Elvira Dones: Hana.
Sworn Virgin. Regie Laura Bispuri. |
Oktober 2017
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Chimamanda Ngozi Adichie: "The Danger of a Single Story" Im ersten Leseheft unseres diesjährigen Fernkurses zu "ver-rückten Biographien" setzten wir uns mit dem in Simbabwe verorteten Roman "Wir brauchen neue Namen" von NoVoilet Bulawayo auseinander. Von zentraler Bedeutung innerhalb einer solchen Beschäftigung mit Literaturen aus Afrika ist der 2009 gehaltene TED-Talk "The Danger of a Single Story" (dt. "Die Gefahr einer einzigen Geschichte") der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Adichie, der viele Grundprinzipien der postkolonialen Literatur zusammenfasst. Darin identifiziert die Autorin Mechanismen und Machtstrukturen, die die Bildung von (ethnischen) Stereotypen bestimmen. Sie spricht über die außergewöhnliche Verantwortung, die Autorinnen und Autoren von Literatur
über Minderheiten bzw. weltpolitisch/-ökonomisch benachteiligte ethnische Gruppen haben, zumal sie diese Gruppen auf einem literarischen Weltmarkt repräsentieren. Adichie verweist auf die in diesen Fällen erhöhte Tendenz, von einem Beispiel auf die gesamte Gruppe zu schließen. Sie warnt
vor der Gefahr, wenn eine Geschichte zu der einzigen Geschichte eines "Volkes" wird und unterstreicht zugleich die Macht, die der Literatur in diesen Prozessen innewohnt.
Denn:
Claudia Sackl Hier können Sie Adichies TED-Talk mit deutschen Untertiteln nachlesen bzw. nachhören. |
Chimamanda Ngozi Adichie |
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Buch-Empfehlungen auf der Litprom-Bestenliste Viermal im Jahr veröffentlicht Litprom (Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.) die Bestenliste "Weltempfänger", die auf die lesenswertesten Neuerscheinungen der Literaturen jenseits von Europa und Nordamerika hinweist. Diese weltweit wohl einmalige Reise durch die Vielfalt der weltliterarischen Produktion liegt als Streifenplakat dem Börsenblatt des Deutschen Buchhandels bei und wird nach Erscheinen in der taz veröffentlicht. Die 36. Litprom-Bestenliste vom Herbst 2017 empfiehlt Romane aus Angola und Südkorea, ein Debüt aus Sri Lanka, einen chinesischen Klassiker, einen Roman aus Bolivien sowie zwei frühe Werke zur Migration aus der Karibik: José Eduardo Agualusa / Eine allgemeine Theorie des Vergessens Hier steht die aktuelle Bestenliste als PDF zum Download zur Verfügung. Mehr Informationen zur Litprom-Bestenliste "Weltempfänger" finden sie hier. |
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